Datensätze aus Alters- und Pflegeeinrichtungen zeigen das Ausmass von Sinnesbehinderungen

Von Stefan Spring

Immer mehr Menschen erreichen das hohe Alter – und mit ihnen steigt auch die Zahl der Menschen, die Seh- und Hörbeeinträchtigungen erfahren. Eine vom SZBLIND in Auftrag gegebene Auswertung von Daten aus dem Bedarfsabklärungsinstrument RAI zeigt zum ersten Mal das Ausmass von Sinnesbeeinträchtigungen bei Menschen in Alters- und Pflegeeinrichtungen.

Ein Mann mit heller Strickjacke sitzt im Freien und hat die Augen zugekniffen.

Ein Viertel aller Bewohner von Altersheimen ist hörsehbeeinträchtigt.
Bild: suze, photocase.com

Die Datenlage zur Seh- und Hörbehinderung im Alter in der Schweiz ist sehr dünn. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND beschäftigt sich seit Jahren mit den Lebenslagen von Menschen mit Seh- oder Hörsehbehinderung. In diesem Zusammenhang lancierte er eine Sonderauswertung der bestehenden Daten aus dem Assessment-System für Alters- und Pflegeheime RAI (RAI-NC). Für das Jahr 2014 wurde eine Stichprobe von 23‘593 Datensätzen gezogen.

RAI ist eines der drei in der Schweiz am stärksten verbreiteten Bedarfsabklärungs-Instrumente für Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen. Es besteht aus einer alle sechs Monate wiederholten Situationseinschätzung und aus der daraus abgeleiteten Bedarfsbemessung und Leistungserfassung. Ziel ist, mit diesem Instrument die Qualität der stationären Langzeitpflege zu verbessern. Alters- und Pflegeheime verwenden solche standardisierte und umfassende Beurteilungsinstrumente, die unter anderem das Ziel haben, die individuellen Bedürfnisse für Pflege und Betreuung zu erkennen, wie auch Qualitätssicherung und –förderung zu gewährleisten.

Über die Hälfte mit Sehbeeinträchtigung

RAI erfasst die Sehfähigkeit anhand einer Einschätzung, die durch die Pflegefachperson durchgeführt wird anhand der Funktion „Sehen“. Es handelt sich also um eine qualifizierte Fremdeinschätzung auf funktionaler Basis ohne dass zwingend eine ophtalmologische Abklärung durchgeführt wird. Die Fachpersonen der stationären Alterspflege, die RAI verwendeten, dokumentierten bei 42 Prozent der Bewohner und Bewohnerinnen eine leichte bis schwerwiegende Sehbeeinträchtigung. Bei rund 14 Prozent wurde eine schwere Sehbehinderung registriert – definiert als Unfähigkeit, trotz Brille auch grosse Buchstaben lesen zu können.

Je älter die Personen sind, desto wahrscheinlicher sind stärkere Sehbeeinträchtigungen. Sowohl leichte wie schwerwiegende Formen der Sehbeeinträchtigung sind pflegerelevant. Doch gerade schwere Sehbehinderung führt dazu, dass Personen nicht mehr erkannt, Gegenstände nicht mehr gefunden, Mahlzeiten nicht mehr selbstständig eingenommen werden können, dass die selbstständige Pflege des Körpers unmöglich wird, Freizeitaktivitäten eingeschränkt, die räumliche Orientierung, das Sicherheitsempfinden und das gesamte Bewegungs- und Sozialverhalten beeinträchtigt werden.

Auch im Bereich Hören geben Pflegefachpersonen ihre funktional ausgerichtete Einschätzung aufgrund von Beobachtungen im Alltag wider: Das Hörvermögen ist demnach bei 48 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner so vermindert, dass es sich im Alltag auswirkt und bei Nichtbeachtung zu Kommunikationsschwierigkeiten führt. Doch Hörhilfen werden nur bei einem Bruchteil der schwerhörigen Personen eingesetzt. Bei 13 Prozent der Personen kann man nicht davon ausgehen, dass sie verstehen, was gesagt wird. Auch Hörbeeinträchtigungen nehmen mit den Altersjahren stark zu. Für den Alltag bedeuten Hörbeeinträchtigungen Einschränkungen in der Kommunikation und Informationsaufnahme, aber auch Missverständnisse, Kränkungen und – daraus resultierend – sozialer Rückzug.

27 Prozent der Personen in Alters- und Pflegeeinrichtungen weisen eine doppelte Sinnesbeeinträchtigung auf.

Sinneseinschränkung und Demenz liegen nahe

Bei Personen mit Sinnesbeeinträchtigungen wurden durch das Pflegepersonal in grösserer Zahl als bei gut sehenden Personen eine Demenzdiagnose oder ein begründeter Verdacht auf eine Demenzerkrankung dokumentiert. Dies kann an der bereits verschiedentlich postulierten „Verwechslungsgefahr“ liegen, die Auswirkungen von Sinnesbehinderungen als Symptome von beginnender Demenz interpretiert. Umso wichtiger scheint es, Anzeichen einer Seh- oder Hörbeeinträchtigung so früh wie möglich abzuklären als ernsthafte und pflegerelevante Entwicklungen.

Sinnesbeeinträchtigungen führen nicht per se zu Pflegebedürftigkeit. Dennoch zeigen die aktuellen Zahlen erstmals in grösserem Umfang, dass viele Bewohner und Bewohnerinnen von Institutionen der alterspflege gravierende Seh- und Höreinbussen erfahren. Sinnesbeeinträchtigungen sind eine Realität, die ca. die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner betrifft, meist schleichend eintreten, lange unbemerkt eintreten oder kaschiert werden und sich bei einem Viertel der Personen zur Hörsehbehinderung kumulieren.

Weitere Informationen: www.szblind.ch à Für Fachpersonen à Forschung à Forschungsberichte