Neue Technik und ihr Nutzen für blinde und sehbehinderte Menschen
von Ann-Katrin Gässlein

Mit iPhone und Co unterwegsAus dem öffentlichen Leben sind sie kaum mehr wegzudenken: Smartphones gehören längst zur Ausrüstung all jener, die unterwegs nicht nur telefonieren, sondern mit Musik, Mails und Mobilfunk gleichzeitig jonglieren. Doch welchen Nutzen hat diese Technik für blinde und sehbehinderte Menschen?

Ein Donnerstagmorgen in Bern, im Kursraum des SBV-Zentrums. Dicht gedrängt sitzen über 20 Personen aus unterschiedlichen Berufszweigen um den Sitzungstisch. Sie arbeiten in Beratungsstellen
und Institutionen, einige sind selbst sehbehindert, nicht alle sind gleich Technik-affin. Einige haben ein iPhone; für die meisten ist das Thema aber Neuland. «iPhone für Blinde» heisst der Kurs, den der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND neu ins Programm aufgenommen hat. Die Rückfragen von Seiten der Beratungsstellen waren sprunghaft angestiegen: «Immer mehr Klienten wollen von uns wissen, ob sie jetzt auch so ein iPhone brauchen, und wie sie damit umgehen sollen», meint eine Teilnehmerin. Um kompetent Auskunft zu geben, muss sie sich selbst das Wissen aneignen.

Bis vor kurzem galt: Für blinde und stark sehbehinderte Nutzer sind die «Touchscreens» unüberwindbare Barrieren. Apple und Co verzichten zunehmend auf eine Tastatur; alles läuft visuell. Aber 2009 kam mit dem iPhone 3Gs erstmal ein Smartphone auf den Markt, das über eine spezielle Bedienungshilfe verfügte, die für Blinde und Sehbehinderte entwickelt wurde. Das Screenreader- Programm von Apple heisst «VoiceOver». Es erlaubt eine Gerätebedienung mittels Berührungsgesten und Sprachfeedback. Seither steigen Beliebtheit und Verbreitung dieser Geräte unter blinden und stark sehbehinderten Personen. Pioniere sind in erster Linie diejenigen, die gegenüber den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien aufgeschlossen sind und sich das erforderliche Wissen und Können selbst aneignen. Aber auch immer mehr Personen zeigen Interesse für ein Smartphone, die mit der Anwendung nicht vertraut sind, ja davor sogar zurückschrecken.

Tippen und Wischen auf dem Bildschirm
Ein ganzer Tag im Kurs ist reserviert, um sich mit dem kleinen Gerät vertraut zu machen: Wo befindet sich überhaupt der Ein- und Aus-Schalter? Wohin führt die Home-Taste? Wie findet man die Buchse für ein Headset oder Kopfhörer? Dann müssen die Bedienungsgesten gelernt werden. Mit zwei Fingern doppelt tippen: Damit nimmt man Telefonanrufe entgegen und beendet sie auch wieder. Andere Gesten sind Dreh- und Streichbewegungen, Zick-Zack-Wischen über den Bildschirm, oder ein Finger wird einfach liegengelassen. Und ganz wichtig: Ein Doppel-Tipp mit drei Fingern aktiviert und deaktiviert die Sprachausgabe.

Das auf Gesten und Sprachfeedback basierende Konzept von VoiceOver ist für Kursleiter Urs Kaiser ein zentraler Schlüssel zur Bedienung des iPhones. Es gibt aber auch andere Einstellungen, die insbesondere Sehbehinderten zugute kommen: Mit der Farbinvertierung erscheint dunkle Schrift auf hellem Grund plötzlich weiss auf schwarz wie bei einem Foto-Negativ. Auch lässt das Zoom die Einstellungen bis zu 500 Prozent vergrössern. Zuletzt kann auch die Schriftgrösse für SMS, Kalenderdetails, Mails oder Kontakte verändert werden. Doch an der kleinen Bildschirmgrösse ändert das alles nichts. Deshalb lohnt es sich – so Urs Kaiser –, «sich mit dem Voice Over anzufreunden.»

Einfach gesagt beinhaltet das iPhone eine Reihe von Grundfunktionen, die den Alltag erheblich erleichtern: Kalender, Wecker, Stoppuhr, ein Telefon- und Adressbuch, ein Emailzugang und die Telefon- und SMS  Funktion des Natels sind in einem Gerät vereint. Aufwändiger Datentransfer ist nicht mehr nötig. Was im Adressbuch abgespeichert wird, ist auch im Mailprogramm verfügbar und so weiter. Einzige Voraussetzung: Ein Zugang zum wLan (zum drahtlosen Internet) oder einem Datennetz eines Telefon-Anbieters. Und richtig spannend – aber auch sehr komplex! – wird das iPhone durch die so genannten Apps, die Applikationen, die vielfältige Anwendungen ermöglichen, und von denen ständig neue auf den Markt kommen.

Hilfe zur Orientierung unterwegs
Beim zweiten Kurstag in Bern soll nun das iPhone auf Praxistauglichkeit geprüft werden. Eine Aufgabe an die Teilnehmenden lautet: Finden Sie die nächstgelegene Bushaltestelle! Und machen Sie sich Gedanken, wie Sie dorthin gelangen könnten! Für die Orientierung auf den Strassen und im Verkehr bietet das iPhone in der Tat Möglichkeiten. Eine grosse Hoffnung kann es indessen nicht erfüllen: Die reibungslose Navigation via GPS für Fussgänger. Was beim Autofahren heute einigermassen klappt, ist für Personen im Schritttempo noch Zukunftsmusik. Die Navigation funktioniert nur, wenn man in Bewegung ist – sobald man stehen bleibt, «stockt» auch die Auskunft. Wer an einer Bushaltestelle ankommt weiss nicht, ob er nach dem Aussteigen geradeaus oder zurücklaufen muss. «Im Moment ist es noch nicht möglich, sich sicher an einen unbekannten Ort ‹lotsen› zu lassen, und auch die unerwarteten Hindernisse werden vom Navigationssystem nicht angezeigt», meint Urs Kaiser.  Er räumt dazu ein: «Die meisten Blinden und Sehbehinderten sind in der Regel nicht alleine auf unbekannten Routen unterwegs. Das Navigationssystem kann jedoch auf einmal begangenen Wegen eine willkommene Orientierungshilfe sein. Dies geschieht beispielsweise mit der App ‹MyWay›, die in der Light-Variante sogar kostenlos verfügbar ist. Mit ‹MyWay› lassen sich neuralgische Punkte wie Fussgängerstreifen oder Treppenabsätze markieren – indem man bei der ‹Erstbegehung› an diesen Punkten das Gerät kräftig schüttelt. Ein Kompass gibt dann die Richtung an, in die man sich bewegt, und Intervalle sagen an, wie viele Meter man vom nächsten ‹Punkt› entfernt ist. Ein anderes nützliches App ist die Suchfunktion ‹SEARCH›, welche das Telefonbuch tel.search.ch, den ÖV-Fahrplan und Meteo-Informationen integriert. Über den Knopf ‹Locate me› wird die GPS-Lokalisierung aktiviert, und man kann sich die nächstgelegene Bushaltestelle vorlesen lassen. Die App ‹Around me› hat die Informationen von Google Maps integriert und zeigt auf Wunsch Hotels, Geldautomaten, Kneipen, Parkplätze oder Tankstellen in der Umgebung des Standortes an. Und über die App ‹Take me home› wird man automatisch zur einmal gespeicherten Wohnadresse zurückgeführt. So viel lotsen ist also schon möglich. Immer vorausgesetzt, man befi ndet sich ‹im Netz›».

Das iPhone kann viel – theoretisch
Die Welt der Apps ist vielfältig und schier grenzenlos, das wird im Lauf des Kurstages klar. Die Theorie ist eindrücklich: Da das Gerät wie ein kleiner Computer funktioniert, lässt sich mit dem iPhone skypen – also ein Video-Telefonat führen. Dreht man den Bildschirm in die Laufrichtung, kann der Gesprächspartner «sehen», was vor einem liegt und dies beschreiben. Da das Gerät als Kamera funktioniert, lassen sich Dokumente ablichten, scannen, vorlesen und dank des Online-Übersetzungsdienstes VizWiz von der Universität Oxford sogar über setzen! Beim «Realitätstest» im Kursraum des SBV offenbaren die verheissungsvollen Funktionen aber auch ihre Schwächen. Mal klappt es mit dem Login nicht, dann fällt das Netz aus, die Skype- Verbindung lässt sich nicht aufbauen. Angesichts der Lichtverhältnisse verweigert die Kamera ihren Dienst. VizWiz schweigt. Ob die Studenten der Uni Oxford gerade Pause machten? Urs Kaiser bringt das nicht aus der Fassung: «Die Technik braucht Verbesserungen, das ist klar. Trotzdem stehen Blinden und Sehbehinderten heute mehr Möglichkeiten offen denn je!»