Trost des Erzählens

Vom Einbruch des Mythischen in die reale Welt handelt Sibylle Lewitscharoffs vielfach preisgekrönter Roman „Blumenberg“. Der Philosoph und Metaphoriker Hans Blumenberg begegnet eines Nachts in seinem Arbeitszimmer einem Löwen. Es ist die irritierende und zugleich beglückende Begegnung mit einem Wunder, eine quasi-religiöse Erfahrung, die sich dem Habitus des Rationalen entgegenstellt. „Blumenberg“ ist ein Buch der Selbstbefragung, des ironischen Schritts von Distanz zu Akzeptanz, und letztlich auch der literarischen Frage nach den Zuversicht spendenden Möglichkeiten des Romans.

Dass nichts gesichert ist, wird in einem Klassiker der Postmoderne, in Italo Calvinos „Herr Palomar“ vorausgesetzt. Herr Palomar ist ein Beobachter, der den Dingen auf den Grund gehen will, indem er zunächst ihre Oberfläche studiert. Allein, sein Vorhaben ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn nur schon die Oberfläche erweist sich als derart komplex, dass sie nicht mehr beschreibbar ist. Also versucht Palomar „tot sein zu lernen“, damit er aus gebührender Distanz auf sein Leben blicken kann, um es in allen Details genauestens zu beschreiben.

Herr Palomar ist eine typische, literarische Kunstfigur, ein theoretischer Vorwand für allerlei philosophische und parodistische Betrachtungen, die immer in ein tragikkomisches Nichts führen. Ganz anders geht Peter Kurzeck die Sache an. In „Vorabend“ schreibt er tatsächlich jedes erinnerte Detail seines Lebens auf. Und weil er, wie Calvino, weiss, dass dies eigentlich unmöglich ist, wiederholt und variiert er das Erinnerte, setzt es in immer neue Zusammenhänge und lässt so eine Zeit und ihre Alltagsgeschichte neu auferstehen, die nicht weit zurückliegt und zahlreiche Hinweise auf die unruhige Gegenwart enthält. „Vorabend“ ist der fünfte Band einer auf zwölf Bände angelegten Chronik mit dem Titel „Das alte Jahrhundert“, ein assoziativer Prozess des Erinnerns, in Umfang und Gehalt durchaus vergleichbar mit Prousts „Recherche“. Der Zugriff aber ist radikaler, denn längst ist dem Erzählten und dem Erzählen selbst die Vergeblichkeit eingeschrieben.

–          Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Ausleihe: DS 22393
–          Calvino: Herr Palomar. Ausleihe: DS 22526
–          Peter Kurzeck: Vorabend. Ausleihe: DS 22386

Braille-Tipp

Wer sich hingegen auf Jeffrey Eugenides neues Buch „Die Liebeshandlung“ einlässt, sollte etwas literaturhistorisches und semiotisches Wissen mitbringen. „Ich versuche, mit meinem Roman mit der literarischen Tradition verbunden zu bleiben und gleichzeitig alte Formen zu untergraben“, sagte Eugenides in der Sendung Reflexe auf DRS 2. „Untergraben“ scheint zunächst auf eine postmoderne Vorgehensweise hindeuten, wäre da nicht der Nachsatz: „Im Herzen bin ich eben ein klassischer Geschichtenerzähler.“ Der deutsche Titel „Die Liebeshandlung“ ist dabei nicht so deutlich wie der englische „The Marriage Plot“, der eine der typischen Fragen des viktorianischen Romans aufgreift: „Wer heiratet wen?“ Daniel Kehlmann urteilte: „Ein Buch über all die grossen Themen: Liebe, Hoffnung, Verzweiflung, Glauben, dazu ein Roman über die Geschichte des Romans, über Abend- und Morgenland, über das Erwachsenwerden, das Denken und das Lesen.“ Ausleihe: BG 20699 / Verkauf: PS12643, CHF 37.90.

Die SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte in Zürich verleiht Hörbücher, Bücher und Musikalien in Blindenschrift, Grossdruckbücher, Hörfilme und tastbare Spiele an blinde und sehbehinderte Menschen. Weitere Informationen: www.sbs.ch