Behindertenorganisationen protestieren gegen die IVG-Revision 6b.

von Gerd Bingemann und Roger Höhener

Die verschuldete Invalidenversicherung (IV) kommt nicht zur Ruhe. Ein neuer Eingriff – die Revision 6b – zielt auf weiteren Abbau und Kürzung von Renten. Doch diesmal formiert sich massiver Widerstand! Den Behindertenorganisationen steht ein heisses Jahr bevor.

Seit über fünfzig Jahren unterstützt die Invalidenversicherung (IV) Menschen mit Behinderung bei der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben. Als wichtiger Pfeiler unseres Sozialversicherungssystems gibt sie Massnahmen den Vorzug, die der Eingliederung oder auch der beruflichen Umschulung dienen – damit die Erwerbsfähigkeit von Menschen wieder hergestellt, erhalten oder verbessert werden kann. Letztere steht immer vor Geldleistungen, wie die IV sie in Form von Renten oder Hilflosenentschädigungen ausbezahlt. Gesamthaft zählt die IV derzeit rund 450‘000 Leistungsbezüger.

IV: Wege aus der Schieflage

Bis in die 1990er-Jahre solide finanziert, ist die IV seither zusehends in finanzielles Ungleichgewicht geraten. Verantwortlich dafür waren sich verschärfende wirtschaftliche Bedingungen, gefolgt von einer erhöhten Invalidisierungsquote. Als negative Auswirkung hat die IV inzwischen Gesamtschulden in der Höhe von CHF 15 Mia. aufgetürmt.

Um der IV wieder zur Gesundheit zu verhelfen, wurden vor acht Jahren Massnahmen eingeleitet: Die 4. IV-Revision führte die Dreiviertelsrenten sowie die RAD ein und machte Abstriche bei den Transportkosten und Ehepaarzusatzrenten. Durch die 5. Revision wurden ab 2008 die Ehepaarzusatzrente und der so genannte „Karrierezuschlag“ für sehr jung arbeitsunfähig gewordene Menschen mit Behinderung abgeschafft. Ausserdem wurden die Berufseingliederungsinstrumente Früherfassung und Frühintervention eingeführt. Zwei Jahre darauf hiess das Schweizer Stimmvolk, wenn auch nur knapp, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zwecks Verschnaufpause zur IV-Sanierung gut: Diese bis Ende 2017 befristeten Mehreinnahmen waren ein Lichtblick sowohl für Behindertenorganisationen als auch für Betroffene. Und es geht flott weiter: Während anfangs 2012 die erste Tranche der 6. Revision (6a) in Kraft getreten ist, befindet sich aktuell der zweite Teil der 6. Revision (6b) in den Mühlen der Gesetzgebung.

Doch diesmal wird die Massnahme nicht ohne Widerstand umgesetzt – das Referendum steht im Raum. Für Roland Gossweiler vom Schweizerischen Blindenbund ist klar: „Die seit 2004 umgesetzten Revisionen verursachen Leistungskürzungen in grossem Stil. So werden mittlerweile pro Jahr nicht weniger als CHF 700 Mio. eingespart – und dies notabene zu Lasten von Menschen mit Behinderung!“ Die Revision 6b umfasst verschiedene Bereiche, in denen aus Sicht der Behindertenorganisationen wie auch der betroffenen Personen massive Verschlechterungen drohen: Mit der 6b werde „die bereits ausgepresste Zitrone bis auf den allerletzten Tropfen ausgequetscht“.“ So soll das heutige, vierstufige Rentensystem mit der Abstufung in Viertels-, halbe, Dreiviertels- und Vollrente durch ein lineares, ein „stufenloses Rentensystem“ ersetzt werden. Allerdings würde neu eine Vollrente erst ab einem Invaliditätsgrad von 80 % (heute 70 %) zugesprochen, was die schwerbehinderten Menschen am härtesten treffen würde – diese sind naturgemäss am stärksten auf die Leistungen der IV angewiesen. Zudem soll der Rentenzugang, also die Voraussetzungen, eine Rente erfolgreich beantragen zu können, weiter verschärft werden. Und schliesslich ist vorgesehen, Renten für Kinder von behinderten Eltern (Kinderrenten) drastisch zu kürzen, womit Kinder die Behinderung ihrer Eltern zusätzlich zu spüren bekämen.

Unnötige Sparübung – oder längerfristige Stabilität?

Behindertenorganisationen bezeichnen die Vorlage aufgrund ihrer ausschliesslichen Abbaumassnahmen als unausgewogen. Daher wird sie geschlossen abgelehnt und gemeinsam mit der politischen Linken sowie Teilen der politischen Mitte bekämpft. „Genug ist genug!“, meint etwa Florence Nater, Vorstandsmitglied des Vereins „Nein zum Abbau der IV“. Sie schliesst nicht aus, dass der Verein das Referendum gegen die Vorlage ergreifen wird, falls diese im parlamentarischen Prozess nicht noch substantiell verbessert wird. Deutliche Worte findet auch Alt-Nationalrätin Marie-Thérèse Weber-Gobet, ebenfalls Vorstandsmitglied im Verein „Nein zum Abbau der IV“. Sie bezeichnet die Vorlage als „Rosskur“ und als „völlig unnötige, unsoziale und ungerechte Sparübung“. Unterstützung erhält sie von Stéphane Rossini, dem Präsidenten der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-NR). Er gibt zu bedenken, dass die IVG-Revision 6b zwar dazu beitrage, die IV vier Jahre früher zu sanieren. Dies würde aber auf Kosten tausender IV-Bezüger geschehen, welche sich mit unbefristeten und damit „lebenslänglichen“ Leistungskürzungen konfrontiert sähen.

Vor allem ist den Gegnern der Vorlage nicht klar, warum es die neuerliche Revision überhaupt und so dringend brauchen soll: Das Bundesamt für Sozialversicherungen betont nämlich selbst, dass die finanziellen Ziele zurückliegender IV-Revisionen bereits heute erreicht, ja teilweise gar übertroffen werden, und dass die Zahl der Neurentner und Neurentnerinnen deutlich gesenkt wurden. Aufgrund der Pensionierung der Babyboom-Generation wird dieser Trend in den nächsten zwölf Jahren zusätzlich verstärkt. Was aber viele der 6b-Befürworter, wozu der Bundesrat wie auch eine Mehrheit der bürgerlichen Parteien zählen, immer noch denken, fasst Guy Parmelin zusammen: „Der Schuldenberg der IV ist immens,“ betont der SVP-Nationalrat und Mitglied der SGK-NR. Das Ziel sei, das längerfristige finanzielle Gleichgewicht herzustellen.

Die Messer sind schon geschärft

Die Behindertenorganisationen wappnen sich zum Kampf: Sobald die Würfel im Bundeshaus definitiv gefallen sind, entscheidet der 2011 gegründete Verein „Nein zum Abbau der IV“, ob das Referendumn tatsächlich ergriffen wird. Bei einem Ja lanciert er unter der Regie von Geschäftsführerin Petra Maurer die dafür notwendige Sammlung von 50‘000 Unterschriften mit dem Ziel, die Vorlage zur Volksabstimmung zu bringen. Dann würde also die heisse Phase einsetzen. Doch bereits heute sind umfassende Vorkehrungen in vollem Gange: Sowohl innerhalb wie auch ausserhalb des Behindertenwesens und in der Öffentlichkeit werden die Gegner der Vorlage mobilisiert.

Voraussichtlich in der Wintersession wird der Nationalrat als Zweitrat die Vorlage beraten. Dabei ist zu erwarten, dass er dem Ständerat nicht in allen Punkten folgen wird. Kommt es somit zu einem Differenzbereinigungsverfahren zwischen beiden Räten, ist mit dem parlamentarischen Schlussentscheid im laufenden Jahr nicht mehr zu rechnen. Damit fiele im März 2013 der Startschuss für die dreimonatige Unterschriftensammlung zur Unterstützung eines Referendums.

Gute Chancen für die Abstimmung

Die Behindertenorganisationen haben dabei gute Karten: In der Abstimmung über die 4. IV-Revision haben sie bewiesen, dass sie referendumsfähig und auf der politischen Bühne schliesslich auch mehrheitsfähig sind. Das weiss auch das Parlament, worin prompt mit neuen Konzessionen versucht wird, den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem zum Beispiel das Rentensystem etwas sozialer gestaltet oder die Sparteile in eine sofortige und eine spätere Massnahme aufgesplittet werden sollen. Doch aufgepasst: Diese Vorschläge zielen auf eine Aufteilung der Vorlage und damit ebenso auf eine Ungleichbehandlung einzelner Gruppen von IV-Leistungsbezügern ab. Just gegen solche Versuche, welche eine Spaltung der Behindertenorganisationen und somit eine Reduktion ihrer politischen Kraft zur Folge haben können, möchte sich das Behindertenwesen wehren. Denn nur mit vereinten Kräften sind die Organisationen in der Lage, erfolgreich ein Referendum auf die Beine zu stellen und auch die anschliessende Volksabstimmung zu gewinnen!

Verein „Nein zum Abbau der IV“

Mit 45 Organisationen ist der Kampagnenverein „Nein zum Abbau der IV“ behinderungsübergreifend zusammengesetzt. Er umfasst Aktiv- oder Unterstützungsmitglieder. Geleitet wird er im Co-Präsidium seit kurzem von zwei bestens bekannten Vertretern des Sehbehindertenwesens: Christina Fasser, Leiterin von Retina Suisse, und Dr. med. André Assimacopoulos, Präsident des SZB. www.nein-zum-abbau-der-iv.ch