Vier junge Erwachsene und ihr Einstieg ins Berufsleben

Von Denise Cugini

Wenn das Wörtchen «wenn» nicht wär … Doch lohnt sich die Frage nach dem «was wäre wenn» überhaupt? Steht für einen sehbehinderten Menschen die Berufswahl an, so ist es besser, wenn er seine Behinderung und die damit verbundenen Einschränkungen akzeptiert, anstatt sich Träumereien hinzugeben. Es geht darum, die richtige Wahl zu treffen. Davon erzählt die Geschichte von Jeanne, Mussa, Oskar und Alen.

Es ist sieben Uhr als der Wecker klingelt. Für Jeanne, die eben volljährig geworden ist, ist es ein ganz normaler Morgen. Vor ein paar Monaten hat sie eine kaufmännische Lehre begonnen. «Ich habe mich für diese Ausbildung entschieden, weil mir damit vieles offen steht. Ich habe mehrere Praktika absolviert, insbesondere in einem Reisebüro und als Tierarztgehilfin, doch die Entfaltungsmöglichkeiten waren sehr beschränkt.» Jeanne hat über 80 Bewerbungen geschrieben. Ihr ging es jedoch wie vielen jungen Menschen: Sie erhielt eine Absage nach der anderen. «Dann hat sich alles innerhalb einer Woche entschieden. Ich hatte fünf Bewerbungsgespräche, bekam zwei Angebote und habe mich schliesslich für die Stelle bei Terre des Hommes entschieden.»

Die Skifahrerin kennt gute Hilfsmittel

tactuel_01_Schwerpunkt_Biografien2

Jeanne bei der Arbeit.
Bilder: Denise Cugini

Bei ihren Bewerbungen hob Jeanne ihre Sehbehinderung nicht hervor. Als Schweizermeisterin im Skifahren in der Kategorie der sehbehinderten Sportler legte sie aber ihr Sponsorendossier bei, was in den Personalabteilungen nicht unbemerkt blieb. «Jeanne hat ihre Stelle auf normalem Weg bekommen. Beim Gespräch über ihre Hobbys Skirennsport und Reiten sprach sie ganz ungezwungen über ihre Behinderung und wie sich diese auf ihren Alltag und ihre Arbeit auswirkt. Vor allem aber hat sie auf mögliche Lösungen und insbesondere auf die existierenden Hilfsmittel hingewiesen», erklärt Alexandra Mirimanoff, Lehrlingsverantwortliche bei Terre des Hommes in Lausanne. «An der kaufmännischen Berufsschule in Lausanne (die Jeanne besucht) wollte ich die Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Lehrpersonen wie bereits in der Volksschule über meine Sehbehinderung aufklären. Daher habe ich heute auch keinerlei Probleme», kommt Jeanne zum Schluss.

Alexandra Mirimanoff präzisiert aber: «Man kann die mit der Behinderung verbundenen Auswirkungen nicht einfach ignorieren. Wir haben mit der IV Kontakt aufgenommen und die notwendigen Anpassungen vorgenommen. Sämtliche in der Ausbildung von Jeanne involvierten Parteien waren enthusiastisch, auch wenn bezüglich einiger dringlicher Massnahmen Vorbehalte geäussert wurden. Diese wurden aber im Dreijahresprogramm berücksichtigt, und man wird sich nun den Problemen annehmen, wenn sie auftreten.»

Matura, Handelsschule – vieles ist möglich

Mussa unterscheidet sich sowohl bezüglich seines Werdegangs als auch seiner Persönlichkeit. Er ist gleich alt, ebenso zielstrebig und ausserordentlich reif. Jeanne ist eher zurückhaltend. Er hingegen nennt sich selbst ein Plappermaul. Und das ist er auch! Er begeistert sich für Betriebswirtschaft und hat das EFZ als kaufmännischer Angestellter erlangt. Nun lernt er für die Matura, damit er danach an die Haute Ecole de Gestion de Genève übertreten kann. «Natürlich gibt es Dinge, die ich nie machen kann. Aber ich habe ein gut funktionierendes Gehirn, Ohren und ein gutes Gedächtnis. Die Natur hat mir Fähigkeiten mitgegeben, die es zu nutzen gilt!», sagt er mit einem breiten Lächeln. Nach langem Suchen fand auch er eine Lehrstelle. «Ich glaube, das liegt vor allem daran, dass die Situation heute für alle schwierig ist. Ich hab nie aufgegeben, und das hat sich gelohnt», so Mussa.

Oskar befand sich vor über zehn Jahren in derselben Situation. Da keine Stelle in Aussicht stand, entschloss er sich die Handelsschule zu absolvieren. Nun arbeitet er seit mehreren Jahren bei einer Heizungsfirma. «Aufgrund meiner schweren Sehbehinderung gibt es nicht viele andere Berufe mit Entwicklungsmöglichkeiten. Meine Arbeit macht mir aber auch Spass.» In der Freizeit ist die Musik seine grosse Leidenschaft. Oskar singt im Ensemble Mühlau sowie im Jodelclub Sins und spielt Schwyzerörgeli.

Hartnäckigkeit zahlte sich aus

Alen schliesslich ist erst 16 Jahre alt. Er absolviert ein zehntes Schuljahr im Sonnenberg in Baar, denn wie die anderen Jugendlichen hat auch er keine Lehrstelle gefunden. Alen hatte schon immer ganz klare Berufsvorstellungen: Er möchte im IT-Bereich arbeiten. Nach zahlreichen Absagen zeigte er sich beharrlich und rief einen potenziellen Arbeitgeber an, der ihm seine Bewerbungsunterlagen zurückgeschickt hatte. Er wollte einfach den genauen Grund für die Absage kennen. Danach und nach einer persönlichen Beurteilung wurde er schliesslich eingestellt.

Die Informatik öffnet zwar heute neue Türen, doch unsere Welt – insbesondere die Berufswelt – ist fast ausschliesslich visuell ausgerichtet. Das macht es für Sehbehinderte nicht gerade einfacher. Man muss einen anderen Weg gehen, um zum Ziel zu gelangen. Als sehbehinderter Mensch muss man gewisse «Träume» oder Wünsche schnell aufgeben. Das ist die Realität. Das Umfeld, die Familie, die Lehrpersonen – sie alle spielen für diese Menschen bereits ab einem ganz frühen Alter eine bestimmte Rolle. «Ich glaube, dass mein Vater immer die richtige Einstellung hatte», so Jeanne. «Er hat mich nie überbehütet, sondern mich immer ermutigt ohne dabei aber zu vergessen, mich auch auf meine Grenzen hinzuweisen.»

Unerlässliche Hilfsmittel

Setzt man sich mit den Erfahrungen der sehbehinderten jungen Erwachsenen auseinander, so zeigt sich, dass sie ihren Erfolg vor allem dem Wissen um ihre Möglichkeiten, grossem Mut und einem ausserordentlichen Durchhaltevermögen verdanken. Dennoch gilt es zu bedenken, dass nicht alle jungen sehbehinderten Menschen über ein gut funktionierendes Umfeld verfügen und ihren Einschränkungen aufgrund der Behinderung ausreichend Rechnung tragen. Es gibt vielleicht auch solche, die mit Lernschwierigkeiten kämpfen. Und schliesslich ist es in einem Alter, indem sich unsere Persönlichkeit entwickelt, auch nicht einfach, ein gutes Selbstvertrauen zu haben. Gibt es etwas, worauf man verzichten muss, das schmerzt? «Den Fahrausweis!», rufen Mussa und Jeanne gleichzeitig.

Die Hilfsmittel sind für die Unabhängigkeit sehbehinderter Menschen nach wie vor unerlässlich. Ein Computer mit Bildschirmvergrösserungs-Software (Zoomtext), eine Lupe und ein Bildschirmlesegerät ermöglichen es Mussa, Jeanne und Alen fast eigenständig zu arbeiten. Für Oskar wird der Inhalt des Bildschirms entweder auf eine spezielle Blindenschriftzeile übertragen oder mittels Sprachausgabe oder Scanner zugänglich gemacht.

Der erste Schritt

tactuel_01_Schwerpunkt_Biografien3

Ein fast alltäglicher Arbeitsplatz.

Soll man im Lebenslauf erwähnen, ob man sehbehindert ist oder nicht? Eine schwierige Frage, auf die es keine klare Antwort gibt. Alen, Jeanne und Mussa entschieden sich, es nicht zu erwähnen, haben aber dann während des Vorstellungsgesprächs darauf hingewiesen. Gleichzeitig haben sie auch die Gelegenheit genutzt, um auf die Konsequenzen und vor allem auf die existierenden Lösungen aufmerksam zu machen. Man weiss, dass eine Behinderung vor allem aufgrund mangelnden Wissens Unbehagen verursacht. Stehen die Leute jedoch in einer «normalen» Beziehung zu einer sehbehinderten Person oder können mit dieser zumindest umgehen, so verschwinden bestehende Vorurteile weitgehend. Auch können Vorurteile und Vorbehalte abgebaut werden, wenn die Menschen im Arbeitsalltag mit einer sehbehinderten Person zu tun haben. Die Bedingung ist einfach, dass klare Verhältnisse herrschen.