Überall ist die Rede von der Arbeitsintegration. Was heisst das für Behindertenwerkstätten? Augenschein in den geschützten Werkstätten des Blinden-Fürsorgevereins Innerschweiz (BFVI) in Horw.

Von David Coulin

Betrieb in den Werkstätten. Bilder: zVg

Betrieb in den Werkstätten.
Bilder: zVg

„Und jetzt sind sie wieder gekommen“, bricht es aus Silvia S. (Name geändert) heraus. Jetzt, wo sich die ehemalige Mütterberaterin wieder gefangen hat. Wo sie sich ihrer psychischen Erkrankung gestellt hat. Nicht, dass sie eine IV-Rente wollte. Im Gegenteil: Sie tat jahrelang alles dafür, in ihrem Job drinzubleiben. Sie durchlief nach mehreren Krisen eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, zerbrach dann aber am Druck, gleichzeitig die Krankheit zu managen, gute Arbeit zu leisten, sich vor bohrenden Fragen des Umfelds zu schützen und das Familienleben im Griff zu behalten. Seit vier Jahren arbeitet sie nun in der Schreinerei der Werkstätten des BFVI in Horw. „Es tut mir gut, mit den Händen zu arbeiten“, sagt sie, „und über diese Arbeit hinaus im Job keine zusätzliche Verantwortung zu tragen. Das ist die beste Krisenprävention.“

Und jetzt sind sie also wieder gekommen, die Leute von der IV. Zum Abklären, ob vielleicht doch eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wieder möglich wäre. Ob eine halbe Rente nicht genüge. Silvia S. hat seither wieder Angst um ihre Existenz, muss sich behaupten – für ihre Rechte als Person mit psychischer Einschränkung, für ihre Entscheidung, zu ihrer Behinderung zu stehen. „Seit einiger Zeit spüren unsere Klientinnen und Klienten klar einen höheren Kontrolldruck seitens der IV“, sagt auch Matthias Metzler, stellvertretender Bereichsleiter der BFVI- Werkstätten Horw. Das Ziel ist klar: Bis 2018 sollen 17 000 IV-Rentnerinnen und -Rentner in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. So will es die IV-Revision 6a.

Im Aus – dank Automatisierung
Oft rennt die IV bei den Betroffenen offene Türen ein. Wie zum Beispiel bei Sepp Wermelinger. 24 Jahre lang konnte der stark sehbehinderte Entlebucher beim Versandhaus Achermann in der Spedition arbeiten. „Dann kam die Automatisierung“, sagt er, „und damit die Strichcodes. Diese konnte ich nicht mehr ablesen.“ Ein Jahr war er danach bei der Firma Dräksack angestellt – bis er kapitulieren musste. Zu streng die Arbeit mit zehn Prozent Sehvermögen, zu streng vor allem auch der Arbeitsweg. Noch so gerne möchte er wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt, aber es geht einfach nicht mehr. „Der Automatisierung und Rationalisierung der Arbeitsprozesse sind im ersten Arbeitsmarkt wohl hunderte von Arbeitsplätzen zum Opfer gefallen, die jetzt trotz den Integrationsbemühungen von geschützten Werkstätten abgedeckt werden müssen“, sagt auch Matthias Metzler.

Auf dem zweiten Arbeitsmarkt

Hier trifft man Menschen mit unterschiedlichen Biografien.

Hier trifft man Menschen mit unterschiedlichen Biografien.

Fast nur durch persönliche Kontakte des Leitungsteams zu Arbeitgebern ist es für seine Klienten möglich, überhaupt zu Integrationsversuchen im ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Zum Beispiel Jason Renggli. Vor drei Jahren konnte der 23-jährige beim BFVI eine Lehre als Logistiker EBA absolvieren. Nach langwieriger Überzeugungsarbeit der Bereichsleitung und mit Hilfe der IV sagte ein grösseres Unternehmen zu, ihn in die Logistikabteilung aufzunehmen. Bald schon wich die Begeisterung der Ernüchterung. Jason durfte lediglich Güter aus dem Lager holen und verpacken. Andere Arbeiten wollte oder konnte man ihm nicht zutrauen. „Nicht einmal alleine mit dem Deichselgerät fahren durfte ich“, sagt Jason. Nun, zurück bei den Werkstätten des BFVI, kann er nicht nur ein- und auslagern oder verpacken, sondern auch selbstständig adressieren und kontrollieren. Mehr noch: Er verantwortet die elektronische Datenaufnahme des gesamten Lagerinventars. Diese Selbstständigkeit hat er nun auch auf sein privates Leben übertragen. Seit einem Jahr lebt er nicht mehr im Wohnheim, das den BFVI-Werkstätten angegliedert ist, sondern in seinen eigenen vier Wänden.

Auch der 35-jährige Stefan Imhasly wirkt sehr selbstbewusst. Er flicht Körbe nach Mass und Kundenwunsch. Was er da macht, grenzt an ein Kunsthandwerk. Dank der zweijährigen Anlehre als Korbflechter in den BFVI-Werkstätten und dem individuell eingerichteten Arbeitsplatz kann er trotz schwerer Sehbehinderung eine Arbeit ausführen, die Nutzen schafft und ihm Anerkennung und Selbstbewusstsein bringt. Nur: An einem Stubenwagen, der nachher für zweihundert Franken verkauft wird, arbeitet er anderthalb Tage – chancenlos, damit im ersten Arbeitsmarkt zu bestehen.

Was Stefan und Jason nicht wissen: Sie haben Glück gehabt. Denn „neu ist es so, dass die IV Ausbildungen, die länger als ein Jahr dauern, nur dann finanziert, wenn wir eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt garantieren können“, sagt Matthias Metzler, und: „Im Fall eines angehenden Industriepraktikanten nach INSOS müssen wir mit der IV praktisch um jeden zusätzlichen Ausbildungsmonat feilschen.“ Das kompromittiert die mögliche – aber halt nicht garantierte – Chance des Klienten, im ersten Arbeitsmarkt unterzukommen. Und es torpediert die garantierte Möglichkeit, im zweiten Arbeitsmarkt eine qualifizierte Arbeit zu machen.

Heterogene Teams
Vor allem aber erhöht es den Aufwand des Leitungsteams. Ein Leitungsteam, das eigentlich genug damit zu tun hat, die Integration der ihnen überantworteten Menschen in der eigenen geschützten Werkstätte sicherzustellen. Es sind Menschen wie Sepp Wermelinger, der nun in der Bürstenbinderei der BFVI – Werkstätten arbeitet. „Die Leiter haben mir sehr geholfen, den Rank zu finden hier in der geschützten Werkstatt“, sagt er. Trotzdem wird er immer wieder vom Gefühl heimgesucht, nicht vollwertig zu sein. Oder Hans Huber. Der ehemalige Autoersatzteilverkäufer hat sich eigentlich gut mit seiner neuen Situation abgefunden. „Wenn dann aber ein anderer Mitarbeiter eine negative Stimmung verbreitet, muss ich weglaufen“, sagt er. Immer öfter werden den BFVI-Werkstätten auch Menschen mit Mehrfachbehinderungen vermittelt. Denn Fakt ist: Der Anteil von zwar gesunden, aber sehbehinderten Menschen nimmt ab. „Die Begleitung von Menschen mit oft auch psychischen Problemen stellt an das Personal neue und veränderte Anforderungen“, sagt Matthias Metzler. Deshalb haben die meisten Gruppenleiter der BFVI-Werkstätten eine Zusatzausbildung als Arbeitsagoge oder – Agogin absolviert.

Beim Gang durch die hauseigene Schreinerei, Korbflechterei oder Bürstenbinderei kann man nur erahnen, wie schwierig es sein muss, all diese Menschen mit so unterschiedlichen Einschränkungen und Bedürfnissen in einem Team zusammenzuführen und individuell zu beschäftigen. Denn merken tut man nichts davon. „Hier bin ich zufrieden“, sagt Jason, und auch den anderen Mitarbeitenden merkt man an, dass sie sich wohlfühlen. Sogar Sepp Wermelinger mag trotz gelegentlicher Selbstzweifel wieder lachen. Denn hier in den BFVI-Werkstätten hat er nicht nur Arbeit, sondern auch eine Freundin gefunden.