Behindertenrechtskonvention und Menschen mit Sehbehinderung im Alter im Heim.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) wurde am 15. April 2014 von der Schweiz ratifiziert. Damit ist die behinderungsspezifische Unterstützung auch von spät sehbehindert gewordenen Menschen in Alterseinrichtungen zu einklagbarem Recht geworden. Für Selbständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe sollen sinnesbehinderte Personen künftig die nötige Unterstützung erhalten.

von Fatima Heussler

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Man sieht die Hand einer alten Frau an einem Mittagstisch: Menschen mit Behinderung steht kostenlose Unterstützung zu, um ihre Würde und Rechte zu wahren. Bild: simonsdog, photocase.com

«Ich bin nicht krank, aber ich sehe nicht gut!», widerspricht Frau Sandmeier, 86, in der Bewohnerrunde. Einige andere in ihrer Sehkraft eingeschränkte Bewohnerinnen und Bewohner nicken. Wie die meisten ihrer sehbehinderten Mitbewohner hat Frau Sandmeier eine altersbedingte Makuladegeneration. In der Bewohnerrunde mit Heimleitung und Pflegedienstleitung werden soeben die Leistungen diskutiert, die das Heim in Zusammenhang mit der Sehbehinderung erbringt. Sind es Pflegeleistungen, Betreuungsleistungen oder Hotelleistungen? Als Betreuungs- oder Hotelleistungen werden die Kosten von der Bewohnerin selbst getragen (gegebenenfalls mit Hilfe von Ergänzungsleistungen), als Pflegeleistungen mehrheitlich von Krankenkasse und Gemeinde übernommen.

Was ist Betreuung, was ist Pflege?

Zu den Betreuungsleistungen gehören neben anderen akustische Information oder Grossschrift beim Menüplan, Hinweise auf Flecken auf der Kleidung oder das Vorlesen von Briefen sowie die sehbehindertenfreundliche Gestaltung von Gruppenveranstaltungen und Ausflügen. Zu den Heim- oder Hotelleistungen zählen bauliche Massnahmen wie Blendschutz (Storen, Vorhänge etc.), Beschriftung, Inneneinrichtung mit geeigneten farblichen Kontrasten oder die individuell optimierte Beleuchtung zur Nutzung des vorhandenen Sehvermögens, am Essplatz, im Zimmer, etc. Die dritte Gruppe sehbehinderungsspezifischer Leistungen sind Pflegeleistungen, beispielsweise rehabilitative Unterstützungsmassnahmen zur Selbstpflege. Sie unterstützen die spät sehbehindert gewordene Person darin, wieder ganz oder teilweise selbständig und von Drittleistungen unabhängig zu werden, zum Beispiel bei der Körperpflege, der Kleidung oder Essen und Trinken, um nur einige Punkte zu nennen. Auch fachkompetente Unterstützung zur Verbesserung der Mobilität und zur selbständigen und zuverlässigen Kommunikation, beispielsweise mit Telefon oder Agenda, gehören in diese Gruppe. Die genannten Leistungen sind Beispiele unter vielen, die in der sehbehinderungsspezifischen Pflege beachtet werden.
Solche Leistungen können heute in einer Alterseinrichtung verlangt werden – sofern diese über Personal verfügt, das in sehbehinderungsspezifischer Pflege und Betreuung geschult wurde. Und wenn das Personal sein Pflegeleistungserfassungs- und Pflegeabrechnungssystem sehbehinderungsspezifisch anwendet! Diese Leistungen verfolgen den Zweck, dass die im Alter sehbehindert gewordene Bewohnerin oder der Bewohner in der ganzen Persönlichkeit gestärkt wird und auch mit der Sehbehinderung wieder autonom entscheiden und handeln kann. Frau Sandmeier sagt, sie möchte gerne wieder «schön essen» können. Sie schäme sich, zum Essen in den Speisesaal zu gehen und verzichte daher oft auf das Essen. Nun versteht sie, dass das angebotene Essenstraining eine Pflegeleistung darstellt, und sie ist bereit, dieses Angebot in Anspruch zu nehmen und dafür mehr Pflegeleistungen zu verursachen.

Auch im Alter Anspruch auf Selbstbestimmung

Die Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) legt detaillierter noch als bereits die Bundesverfassung (BV Art. 8) fest, dass Menschen mit Behinderung nicht diskriminiert werden dürfen, auch nicht, wenn die Behinderung erst im Alter auftritt. Die BRK betont ausdrücklich, dass verfügbare Massnahmen eingesetzt werden müssen, um Menschen mit Behinderung kostenlos zu unterstützen, um so ihre Würde und Rechte zu wahren. Das bedeutet, dass getan werden muss, was mit vernünftigem wirtschaftlichem Aufwand getan werden kann. Menschen mit Behinderung können auch im Alter rehabilitative Unterstützung zur Verbesserung der Selbständigkeit beanspruchen, über ihre Anliegen selber bestimmen, beziehungsweise darüber mitreden. Fremdbestimmung hat in der Langzeitpflege theoretisch schon länger ausgedient. Einzig die behinderungsspezifischen Pflegemassnahmen und -techniken sind noch weitherum unbekannt – was oft zur Abhängigkeit von Personal führt. Die BRK verlangt nun, dass diese Massnahmen und Techniken angewandt werden.

Kostenaufteilung ist BRK-widrig

Frau Sandmeier ist dankbar, dass Heim- und Pflegedienstleitung dieses Gespräch geführt und die Zuordnung der Kosten erklärt haben. Allerdings ärgert sie sich darüber, dass sie die Betreuungskosten, die wegen ihrer Sehbehinderung anfallen, selbst übernehmen muss. Damit hat Frau Sandmeier Recht. Die Aufteilung der Kostenübernahme von behinderungsbedingten Betreuungskosten gemäss Pflegekostenfinanzierungsgesetz ist BRK-widrig: Behinderungsbedingte Betreuungskosten dürften der Bewohnerin nicht überbürdet werden. Aber: «Wo kein Kläger ist, ist kein Richter.» Erst wenn die konkrete Umsetzung der BRK von Betroffenen auf dem Rechtsweg eingefordert wird, wird wohl das Gesetz angepasst werden. Inzwischen ist es die Aufgabe der Verbände, aufzuklären und zu mahnen.

Fatima Heussler leitet das Kompetenzzentrum für Sehbehinderung im Alter KSIA in Zürich, www.ksia.ch