Unsere Tochter hat eine Seheinschränkung, aber es liegt keine Diagnose vor. Die Sehschwäche ist unbekannter Herkunft. Das war und ist für sie und für uns als Familie sehr schwierig. Wir sind aber sicher eine Ausnahme, und unsere – auch frustrierenden Erfahrungen – mit der Augenmedizin lassen sich wohl nicht einfach übertragen.

Von Daniela Koch / Protokoll: Ann-Katrin Gässlein

Ein Kind mit lockigen Haaren schaut durch die Gläser einer bunten Brille mit Metallgestell.

Wenn ein Kind Sehprobleme hat, ist der Rest der Familie auch bestroffen.
Bild: Lüdde Diop-Trine, photocase.com

Sie war in der zweiten Klasse, kam eines Tages nach Hause und meinte, sie könnte die Tafel, die im Schulbuch abgebildet war, nicht lesen. Ihre Freundin, die neben ihr sass, konnte hingegen alles erkennen. Vorher gab es nie Auffälligkeiten: Im Kindergarten wurde ein leichtes Schielen festgestellt, das aber schwach war und nicht korrigiert werden musste. Dann aber, im Alter von acht Jahren, kam es zu einem ziemlich starken Abfall der Sehleistung in kurzer Zeit. Wir waren bei sehr vielen Ärzten, auch im Unispital. Sieben Stunden wurde sie ununterbrochen gecheckt, Hirnströme wurden gemessen und vieles mehr. Man fand nichts. Für uns war das eine schlimme Zeit. Es entstand der Eindruck, als ob man unserer Tochter nicht glaubte, als ob man ihr unterstellte, Theater zu spielen, etwas vorzugaukeln. Doch welches Kind spielt dauerhaft vor, dass es so schlecht sieht? Für mich war es unverständlich, dass die Mediziner nicht einfach offenlassen konnten, dass es Ursachen und Umstände gibt, die mit den heutigen Möglichkeiten nicht erfasst werden. Nicht zuletzt war die IV-Anmeldung ohne Diagnose sehr schwierig.

Ihre Reaktion war radikal: Sie macht keinerlei Sehtests mehr. Verständlich, denn man hatte ja lange immer angezweifelt, was sie sagte, und jetzt ist sie total verunsichert. Alle Abklärungen lehnt sie momentan ab, und wir können sie nicht dazu zwingen.

Schliesslich konnten die Ärzte uns nicht weiterhelfen; wir mussten selbst schauen, wie wir unserer Tochter helfen konnten. Die Low Vision-Beratung vom SZBLIND ist uns von der Klassenlehrerin unserer Tochter empfohlen worden, erstaunlicherweise nicht von den Augenärzten. Für unsere Tochter wurde die Situation stets schwieriger. In der Schule konnte sie fast nichts mehr lesen, denn jedes Schuljahr werden die Schriften kleiner und komplexer.

Sie hat immer viel kompensiert. Was sie nicht sah, versuchte sie zu hören. Mit Hilfsmitteln arbeitete sie ab der 5. Klasse. Sie hat einen Laptop mit Kamera, die braucht sie für den Fern- und den Nahbereich. Auch zuhause hat sie Hilfsmittel für den Nahbereich, um ihre Hausaufgaben überhaupt lösen zu können. Natürlich gibt es Einschränkungen, zum Beispiel beim Velofahren im Strassenverkehr, denn bei Dunkelheit, Nebel oder Regenwetter kann sie gar nicht fahren. Unfälle kommen immer wieder vor. Ich muss sie bei diesen Wetterverhältnissen in die Schule bringen, da wir schlecht an den ÖV angeschlossen sind.

Unsere Familie unterstützt unsere Tochter, wo es geht. Wir lesen viel vor, um Ihr Zeit und Energie zu sparen. Wenn ihr niemand helfen kann, weicht sie aus oder kompensiert über die anderen Sinne. Wenn ihr etwas herunterfällt, kann sie sehr schnell ertasten, wo es liegt. Trotzdem ist der Schulbesuch täglich eine logistische Meisterleistung: Da ständig die Schulzimmer gewechselt werden, muss sie ihren Laptop und Kamera herunterfahren, einpacken in den nächsten Raum tragen, alles wieder einrichten – da bleibt kaum Zeit für Pausen.

Unsere Tochter arbeitet eng mit dem Heilpädagogen vom TSM zusammen, er ist eine extrem wichtige Stütze für Lehrpersonen, Tochter und Eltern. Und wir stehen mit der SBH in Basel in Kontakt. Nach dem Schulabschluss will sie Physiotherapeutin werden. Es gibt da einen Studiengang, der Seheingeschränkte zusätzlich unterstützt. Das wäre sicher ein Glück für sie. Unser Netzwerk ist sehr gut, neben der Low Vision-Beratung gehört auch AccessTech dazu. Nur in medizinischer Hinsicht besteht nach wie vor ein grosses Fragezeichen.