Im Forschungsprojekt ZuBra geht’s um die Zukunft der Brailleschrift

von Ursula Hofer

Wie und wozu wird die Brailleschrift heute und in Zukunft gebraucht? Welche technologischen Hilfsmittel werden von blinden und sehbehinderten Menschen sonst noch – ergänzend oder als Ersatz – genutzt? Wie kompetent sehen sich betroffene Menschen bei der Lektüre der Brailleschrift und anderer Technologien? Und wo benötigen sie Unterstützung? Diesen Fragen geht das Forschungsprojekt ZuBra nach, das in diesem Herbst startet.

Werfen wir vorerst einen Blick in die Vergangenheit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Louis Braille mit Hilfe von sechs Punkten eine tastbare Schrift für blinde Menschen entwickelt. Braillekurzschriften entstanden Ende 19. Jahrhundert. Buchstabengruppen und ganze Wörter lassen sich damit abgekürzt schreiben. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erforderten Computertechnologien eine Brailleschrift, basierend auf acht Punkten. Ankündigungen und Doppelbelegungen von Zeichen erübrigen sich damit.

Altbewährtes und Neues in komplexer Vielfalt

Die Brailleschrift am Computer ist auf acht Punkten aufgebaut: Hier die Ansicht einer Braillezeile. Bild: Sonnenberg BAAR

Die Brailleschrift am Computer ist auf acht Punkten aufgebaut: Hier die Ansicht einer Braillezeile.
Bild: Sonnenberg BAAR

Bis heute hat sich die Brailleschrift als anpassungsfähiges Konzept bewährt. Am PC geschriebene Texte lassen sich als tastbare Papierversion ausdrucken. Mit dem PC verbindbare Braillezeilen und Screenreader als unterstützende Software ermöglichen sowohl Lesen als auch Hören von Texten ohne Ausdruck. Schwarzschrifttexte lassen sich mit neuen Scann-Technologien sekundenschnell in Vorlesetexte umwandeln. Hörbücher und eBooks  stellen beliebte Alternative zu Braillebüchern dar. Apple-Geräte wie IPad, IPhone oder MacBook enthalten bereits beim Einkauf den Screenreader VoiceOver, der kompatibel mit Braillezeilen ist. Trotzdem ist man auf Weiterentwicklungen assistiver Technologien gespannt – und neugierig, wie sie am sinnvollsten zu nutzen sind.

Der Einsatz von Braille im Unterricht
Wie kann der gegenwärtige Umgang mit der Brailleschrift konkret aussehen? Nehmen wir ein Beispiel: Der Schüler D. ist zwölfjährig und hochgradig sehbehindert. Er kennt die Schwarzschrift, arbeitet aber vorwiegend in Braille. Zu Beginn einer Lektion in einer Sonderschulklasse öffnet er ein Worddokument im PC. Er liest den Text auditiv mit Kopfhörern mit dem Screenreader JAWS. Ab und zu überprüft D. am Bildschirm visuell, wo er sich im Text befindet. Anschliessend schreibt er mit PC-Tastatur seine Gedanken zum Gelesenen auf. Für seine sehbehinderten Mitschülerinnen und Mitschüler macht er davon einen Ausdruck in Schwarzschrift. Er trennt die Braillezeile Esys vom PC und nimmt sie mit an den Gruppenarbeitstisch Hier liest er seinen Text  taktil in Eurobraille vor und nutzt die Esys als Notizgerät. Das heisst, er schreibt mit der Brailletastatur. Schliesslich erhält er einen ausgedruckten Brailletext zum Einschätzen seiner Arbeit. Der Text ist in Vollschrift geschrieben.

Offensichtlich hat D. bereits verschiedenste Kompetenzen und Arbeitsstrategien erworben, die er je nach Anforderungen flexibel einsetzen kann – und muss.  Was braucht er, damit dies möglich ist? Welche Kompetenzen brauchen seine Lehrpersonen, um ihm eine umfassende Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen? Diese Frage stellt sich besonders für integrative resp. inklusive Schulformen, weil hier andere Aufgaben- und Rollenteilungen erfolgen und andere zeitliche Ressourcen verfügbar sind.

Überzeugungen, Befürchtungen und Forderungen
Der einfache und schnelle Audio-Zugang zur Sprache wird heute oft gleichwertig neben die Punktschrift gestellt. Gleichzeitig werden Befürchtungen laut, dass Braillekompetenzen und damit Lese- und Schreibfähigkeiten abnehmen. Dazu geben Selbstbetroffene und Fachpersonen unterschiedliche Einschätzungen:

  • Die Brailleschrift ist das Genialste was es gibt: einfach und klar und überall nutzbar.
  • Die Braille-Kurzschrift ist ein kompliziertes intellektuelles Regelwerk.
  • All die Technologien sind überfordernd; was heute top ist, ist morgen veraltet.
  • Viele Lehrpersonen sind zu wenig kompetent im Umgang mit den neuen Technologien.
  • In integrativen Schulformen geht die Brailleschrift verloren, weil die Zeit dazu fehlt.
  • Wer das individuell Passende selbstbestimmt auswählen will, muss ALLES können.
  • Gute Braillekompetenzen sind Voraussetzung zu beruflicher Qualifizierung.
  • Brailleschrift und Audio-Sprachzugang sind gleichwertig; man muss selbst entscheiden.
  • Der Aufbau von Kompetenzen in Informations-Technologien muss besser unterstützt werden.

Was bringt das Forschungsprojekt ZuBra?
In Kooperation der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit der Hochschule für Heilpädagogik Zürich will ZuBra Antworten auf die eingangs gestellten Fragen geben.

Die Erhebung geschieht zuerst mittels einer Onlinebefragung blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen aller Altersstufen in beiden Ländern. Nach der Auswertung der Ergebnisse folgen umfangreiche qualitative Erfassungen in Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen. Aus den Erkenntnissen von ZuBra wollen die Forschenden Konzepte ableiten, um die Lese-, Schreib- und Hörkompetenzen von blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen möglichst optimal zu unterrichten, zu fördern und zu unterstützen. Ebenso sollen die Ergebnisse eine Entscheidungsgrundlage für die Frage geben, wieviel Bedarf an Lernmitteln und Technologien im individuellen Fall vorhanden ist.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt ZuBra: In Kürze unter www.hfh.ch/de/forschung/projekte/ bei Projekt E16

Markus Lang (lang@ph-heidelberg.de) und Ursula Hofer (ursula.hofer@hfh.ch)