Wie sich das Sehvermögen in jungen Jahren entwickelt

von Bettina Immler

Die Sehentwicklung ist eine äusserst dynamische Entwicklung. Dabei gibt es wichtige Entwicklungsfenster, die man nicht verpassen darf. Bei Fehlsichtigkeiten ist eine frühzeitige Behandlung wichtig, denn je jünger das Kind behandelt wird, desto besser kann dessen Gehirn die Sehfähigkeit trainieren. Daher fördert eine rechtzeitige Brillenkorrektur die altersentsprechende Sehentwicklung oder stellt sie wieder her.

Ein Augenarzt führt eine Untersuchung bei einem zweieinhalbjährigen Kind durch.

Sehtests sind bei Kindern aller Altersstufen möglich.
Bild: Ann-Katrin Gässlein

In den ersten Lebensmonaten macht das Sehvermögen eine rasante Entwicklung durch! Kurz nach der Geburt nehmen Babies die Umwelt sehr undeutlich wahr. Augen und Sehzentren im Gehirn sind zwar ausgebildet, jedoch noch nicht ausgereift. Durch Seherfahrungen bzw. visuelle Stimulation geht es in Riesenschritten voran: Bereits im Alter von sechs Monaten kann eine sechsfach höhere Sehschärfe nachgewiesen werden, das Farb- und dreidimensionale Sehen gilt als ausgereift. Mit Schulbeginn ist die visuelle Entwicklung bzw. Reifung schon fast abgeschlossen. Im Alter von zehn bis zwölf Jahren gilt ein Auge als erwachsen.

Die Sehentwicklung eines Kindes hat einen grossen Einfluss auf seine motorischen, sprachlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten, da mehr als 80% der Wahrnehmung über den visuellen Kanal erfolgt.

Abbildung und Bildverarbeitung

Das Auge können wir mit einer hochwertigen Digitalkamera und die Sehzentren im Gehirn mit einem Bildverarbeitungsprogramm vergleichen. Die Hornhaut und Linse bilden den Autofokus und können flexibel auf verschiedene Distanzen scharf einstellen. Trifft ein Lichtstrahl auf die Netzhaut, leitet diese via Sehnerv die Bildinformation weiter ins Gehirn. Dort wird das Bild verarbeitet, mit bisherigen Seheindrücken verglichen und zugeordnet (z.B. Gesichtserkennung). Schliesslich wird das Bild in den Erinnerungen abgespeichert.

Bei einem normalsichtigen Auge sind alle Elemente, die am Sehen beteiligt sind, so aufeinander abgestimmt, dass immer ein scharfes Bild im Zentrum der Netzhaut entsteht. Ein qualitativ hochwertiges Bild wird ins Gehirn weitergeleitet. Anders verhält es sich bei einem fehlsichtigen Auge. Durch unterschiedliche Bauvarianten des Augapfels oder der brechenden Medien wie Linse und Hornhaut können Fehlsichtigkeiten auftreten. Durch eine Fehlsichtigkeit (auch Brechungsfehler genannt) entsteht ein unscharfes Bild auf der Netzhaut – die Abbildungsqualität ist beeinträchtigt.

Die Abbildungen zeigen schematische Darstellungen eines Augapfels mit Linse. Das Bild eines Pfeils wird anhand von Lichtstrahlen durch die Linse im Augapfel gespiegelt; der umgekehrte Pfeil steht dabei jeweils vor oder hinter der rückwärtigen Augapfelwand, welche die Netzhaut darstellt.

 

 

 

 

bild-weitsichtig

 

 

 

 

Bild Astigmatismus

Bei Kurzsichtigkeit werden die Lichtstrahlen vor der Netzhaut gebündelt, bei Weitsichtigkeit erst hinter der Netzhaut. Bei Astigmatismus entstehen mehrere Bilder, sowohl hinter als auch vor der Netzhaut.

 

 

 

 

 

 

Wie erkennt man eine Fehlsichtigkeit?

Fehlsichtigkeiten von Kindern bleiben oft lange Zeit verborgen. Die Kinder selbst merken keine Beeinträchtigungen – sie kennen nichts anderes und entwickeln oft unbewusst Kompensationsstrategien. Es gibt aber Warnzeichen für eine mögliche Fehlsichtigkeit: Kopfschmerzen, Schielen, Augenbrennen oder vermehrtes Augenzwinkern, Blendempfindlichkeit, Unlust Bilderbücher zu betrachten bzw. Leseunlust, Ungeschicklichkeit oder Verhaltensauffälligkeiten.

Da genetische Faktoren eine Fehlsichtigkeit begünstigen können, gehören Kinder aus Familien mit Fehlsichtigkeiten, Schwachsichtigkeiten und Schielen zur Risikogruppe. Ebenso weisen Kinder mit allgemeinen Syndromen, Mehrfachbehinderungen oder ehemalige Frühgeburten eine höhere Rate von Fehlsichtigkeiten auf und sollten bei Bedarf frühzeitig abgeklärt werden.

Kein Kind zu klein, um untersucht zu werden…

Mit spielerischen Tests, die auf das Alter und die Möglichkeiten des Kindes abgestimmt sind, können Orthoptistin und Augenarzt oder Augenärztin schon sehr früh viele wichtige Infos zur Augengesundheit des Kindes erhalten.

Bereits im Babyalter kann man Fehlsichtigkeiten ermitteln. Zur genauen Bestimmung des Brechungsfehlers wird eine Skiaskopie durchgeführt. Dabei blickt das Kind auf eine 70 bis 80 cm entfernte Lichtquelle des Skiaskops, während der Untersucher oder die Untersucherin die Dynamik eines projizierten Lichtstrahls auf der Netzhaut beobachtet und entsprechend der Fehlsichtigkeit Korrekturgläser vorgibt. Mit Erfahrung und Routine ist die Skiaskopie eine sehr schnelle und zuverlässige Untersuchung. In der Regel wird eine Skiaskopie mittels pupillenerweiternden Augentropfen durchgeführt. Denn Kinder können durch Überanstrengung des Linsenapparates (Akkommodation) Weitsichtigkeiten sehr gut kaschieren. Mit den Augentropfen kann dieser Mechanismus vorübergehend ausgeschaltet werden und man erhält einen unverfälschten Basiswert der Fehlsichtigkeit.

Hinsichtlich der Entscheidung, ob eine Brille notwendig ist, sammeln wir neben dem Skiaskopiebasiswert die Gesamtschau von Symptomen, Alltagsbeobachtungen und übrige Untersuchungsergebnisse. Bei der Frage nach einer Brillenverordnung berücksichtigen wir die individuellen Faktoren.

Fehlsichtigkeit kann zu Schwachsichtigkeit führen

Ein Risiko bei fehlsichtigen Kindern besteht darin, ohne Brillenkorrektur eine bleibende Sehschwäche zu entwickeln. Von einer Schwachsichtigkeit (Amblyopie) spricht man, wenn bei ansonsten organisch gesunden Augen und optimaler Brille eine Sehschärfenreduktion auf einer oder beiden Seiten bestehen bleibt. Mit anderen Worten handelt es sich bei einer Schwachsichtigkeit um ein Entwicklungsdefizit. Für Eltern und Kind verlangt die Therapie einer Schwachsichtigkeit Geduld und Ausdauer. Manchmal bleibt trotz gut durchgeführter Therapie ein Restdefizit bestehen. Deshalb ist Prävention sehr wichtig.

Eine ausgeprägte Fehlsichtigkeit gehört neben dem Schielen zu den grössten Risikofaktoren, eine Schwachsichtigkeit zu entwickeln. Ein optimales Brillenglas hingegen korrigiert eine Fehlsichtigkeit in der Weise, dass wieder ein scharfes Netzhautbild entsteht und ein qualitativ gutes Bild ans Gehirn weitergeleitet werden kann.

Bettina Immler arbeitet als spezialisierte Orthoptistin in Low Vision Teilzeit in zwei Augenarztpraxen sowie bei der Obvita Sehberatung Fachbereich Kinder & Jugend