Begleitung zur beruflichen Integration von sehbehinderten und blinden Jugendlichen

von Daniel Hedinger und Beat Theiler

Was jetzt? Wenn diese Frage erst nach dem Schulabschluss gestellt wird, ist es zu spät. Die Auseinandersetzung mit Bedürfnissen und Wünschen, mit Stärken und Schwächen, sollte viel früher beginnen – schon während der Schulzeit. Wir skizzieren einen möglichen Weg vom Berufswahlprozess bis zur ersten Arbeitsstelle. Dabei richten wir den Fokus auf Prozesse und Abläufe, die sich vom Berufswahlprozess Jugendlicher in Regelschulen unterscheiden.

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Ein Kind schaut mit einem Fernglas in den Horizont – ein Sinnbild für seine eigene Zukunft?
Bild: KONG, photocase.com

Sehbehinderte und blinde Jugendliche in der Oberstufe bringen ganz unterschiedliche Voraussetzungen, Interessen und Fähigkeiten mit. Daher brauchen sie einen individuell gestalteten Berufswahlprozess. Die Ausgangslage für den Unterricht bilden der Berufswahlfahrplan und die bekannten Berufswahllehrmittel. Dabei steht schon zu Beginn der Oberstufe das Kennenlernen der eigenen Wünsche, Ziele, Möglichkeiten und Einschränkungen im Zentrum. Und die persönliche Sehsituation – mit dieser muss sich jeder und jede auseinandersetzen, damit die Jugendlichen selbst Experten ihres persönlichen Sehens werden und die daraus entstehenden Konsequenzen für ihre Berufswahl akzeptieren können.

Dieser Prozess kann schmerzhaft sein, für die Jugendlichen, aber auch ihre Eltern, ist aber wichtig, um eine realistische Berufswahl zu erlangen. Die Eltern werden in den Prozess einbezogen: Nach Möglichkeiten können sie an Betriebs- und Berufserkundungen im Klassenverband teilnehmen, damit sie zusammen mit den Jugendlichen einen ersten Einblick in die Berufswelt erhalten. Und damit sie gemeinsam Kriterien kennenlernen, die ihnen helfen, sich im Angebot der Ausbildungsplätze zurechtzufinden. Auch individuelle Erkundungen und Schnupperlehren werden oftmals im Betrieb gemeinsam mit den Jugendlichen, Eltern und Lehrpersonen geplant und ausgewertet.

Ausbildung: Der erste Übergang

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Ein Kompass symbolisiert den Orientierungsprozess zur Berufswahl.
Bild: öda, photocase.com

Sobald die Jugendlichen eine Lehrstellenzusage erhalten haben, werden mit den Ausbildungsverantwortlichen Massnahmen für den Unterstützungsbedarf dis

kutiert und festgelegt. Dazu gehören verschiedene Massnahmen: Zum Beispiel die Übertragungen von Lehrmitteln, die Anschaffung von Hilfsmitteln am Arbeitsplatz und in der Berufsschule, eine Ausbildungsbegleitung, oder die spezifische Unterstützung durch Fachpersonen in den Bereichen ICT, LPF, Low Vision und O&M. Dadurch soll den Jugendlichen eine möglichst adäquate  Ausbildung ermöglicht werden wie allen anderen. Nach Absprache mit der zuständigen Fachperson der IV wird anschliessend ein Antrag für die Kostengutsprache der vorgeschlagenen Massnahmen eingereicht. Denn die Sehschädigung bedingt Nachteile, und um diese ausgleichen oder zumindest abschwächen zu können, kann ein Nachteilsausgleich beider kantonalen Behörde für berufliche Bildung eingereicht werden.

Abgeklärt wird aber nicht nur der Unterstützungsbedarf. Auch die Privat- und Wohnsituation der Jugendlichen während der Ausbildung muss betrachtet werden. So gilt es, abzuwägen: Wird der neue und herausfordernde Lebensabschnitt vom familiären „setting“ getragen? Oder muss eine andere Wohnsituation angedacht werden?

Während der Vorbereitungsphase ist auch die Sensibilisierung der künftigen Mitarbeitenden im Betrieb und in den Klassen in der Gewerbeschule bedeutungsvoll. Die Jugendlichen informieren selber oder mit Unterstützung einer Fachperson kompetent über ihre Sehschädigung. Und sie zeigen auch ihre Ressourcen und Lösungsstrategien.

Enge Begleitung unterstützt

Jugendliche, die im zweiten Arbeitsmarkt eine Berufslehre absolvieren, werden vom Ausbildungsbetrieb ausreichend unterstützt. Eine zusätzliche Begleitung während der Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt muss bei der kantonalen IV-Stelle beantragt werden. Der Sonnenberg bietet zum Beispiel Unterstützung an durch Coaching zu Themen wie „Umgang mit Druck“ und „Selbstorganisation“, trainiert den Einsatz der Hilfsmittel oder engagiert sich in der Koordination zwischen allen Beteiligten der Ausbildung.

Voraussetzung für eine Ausbildungsbegleitung sind aber immer die Bereitschaft und Motivation des Jugendlichen zur Teilnahme: Denn grundsätzlich müssen sie die grösste und wichtigste Arbeit leisten! Für die Steuerung und Unterstützung des Ausbildungsprozesses ist die Begleitung mitverantwortlich, nicht aber für den erfolgreichen Abschluss. Denn der Integrationsprozess hängt wesentlich von den Vorgesetzten und Mitarbeitenden des Ausbildungsbetriebes ab. Die regelmässige Kontaktpflege mit den Unternehmen hilft deshalb, bei Problemen rechtzeitig reagieren und Unterstützungsmöglichkeiten anbieten zu können.

Wie weiter nach der Lehre?

Eine noch grössere Hürde als der Übergang von der Schule in die Ausbildung ist der Schritt zur ersten Arbeitsstelle. Fachkenntnisse werden nun vorausgesetzt, und die Kontrollen durch einen Lehrmeister oder eine Lehrmeisterin fallen weg. Die Ausbildungsbegleitung der Schule kann bei diesem Übergang helfen, indem sie erste Gespräche über die Zeit nach der Lehre bereits vor dem Qualifikationsverfahren – der Lehrabschlussprüfung – ansetzt, die Suche nach einer Anstellung unterstützt und in der ersten Phase begleitet. Da Menschen mit einer Sehschädigung häufig nicht die gleiche Arbeitsfähigkeit zugesprochen  wird wie Menschen ohne Sehschädigung, können die beruflichen Massnahmen der IV (Arbeitsvermittlung, Arbeitsversuch oder Einarbeitungszuschuss) in dieser ersten Phase wichtig für die Integration werden.

Auf einzelne Personen kommt es an!

Unsere Beschreibung von einer Begleitung sehbehinderter und blinder Jugendlicher auf dem Weg in den Arbeitsmarkt ist bewusst auf Aspekte wie Pünktlichkeit, Anstand oder das Beherrschen der Hilfsmittel nicht eingegangen – wobei diese Faktoren für eine gelingende berufliche Integration natürlich zentral sind. Wir sind uns auch bewusst, dass diese Darstellung einem Konzept entspricht. Im individuellen Fall muss die Ausgangslage den entsprechenden Jugendlichen angepasst werden. Der vielleicht bedeutendste Erfolgsfaktor aus unserer Sicht – für alle Ausgangslagen! – ist aber der Einfluss von Einzelpersonen. Das mag nüchtern und einfach erscheinen, aber die Bereitschaft der Personen, unsere Jugendlichen bei ihrer Ausbildung direkt oder indirekt zu unterstützen, entscheidet massgeblich über Erfolg oder Misserfolg. Damit entlasten wir nicht die Jugendlichen von ihrer Verantwortung! Aber wir möchten aufzeigen,  welche Bedeutung eine Ausbildungsbegleitung im Sinne eines Coachings zwischen dem Jugendlichen, dem Lehrbetrieb und der Gewerbeschule haben kann. Nicht nur, wenn Probleme auftauchen, sondern auch, um verschiedene Wünsche und Vorstellungen zu berücksichtigen und weiterführende Massnahmen zu gestalten.

Daniel Hedinger begleitet Jugendliche während der Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt, Beat Theiler unterrichtet blinde und sehbehinderte Jugendliche auf der Oberstufe. Beide arbeiten im Sonnenberg Baar.