Unter neuer Leitung will die „Tanne“ in den nächsten Jahren viel erreichen

Von Ann-Katrin Gässlein

Nach siebzehn Jahren in der Leitung der „Tanne“ übergibt Erika Steiger die Regie an den Sonderpädagogen Mirko Baur. Ein Blick in die einzigartige Institution der Deutschschweiz, in der Beratung, Betreuung und Bildung für taubblinde, hörsehbehinderte und mehrfach sinnesbehinderte Menschen jeglicher Altersstufe angeboten werden.

Der Innenhof des Backsteingebäudes, das die „Tanne“ beheimatet. Es herrscht Raumbe-darf: Erst gibt es ein Pavillon, dann soll ein Neubau folgen. Bild: Tanne

Der Innenhof des Backsteingebäudes, das die „Tanne“ beheimatet. Es herrscht Raumbe-darf: Erst gibt es ein Pavillon, dann soll ein Neubau folgen.
Bild: Tanne

Kurze Zeit nach dem Umzug von Zürich nach Langnau am Albis hatte Erika Steiger die Gesamtleitung der Schweizerischen Stiftung für Taubblinde übernommen. Mit den Jahren erhielt die Tanne ihr heutiges Profil: Sie ist eine Einrichtung mit unterschiedlichen Dienstleistungen, die alle in erster Linie die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten von Menschen mit teils schweren Sinnesbehinderungen fördern. Konkret heisst dies: Ambulante und stationäre Heilpädagogische Früherziehung für Kleinkinder, eine Sonderschule und ein Internat mit sieben Klassen und drei Wohngruppen samt Logopädie, Physiotherapie und Ergotherapie, 41 Wohn- und Tagesstätte-Plätze für Erwachsene samt Physiotherapie und nicht zuletzt ein umfassendes Beratungs- und Unterstützungsangebot für Fachpersonen, Eltern und Angehörige. Die Tanne ist ein Kompetenzzentrum für Fragen rund um die kontextsensible Diagnostik und Förderung von Menschen mit Hörsehbehinderung und verwandten Formen von mehrfacher Sinnesbehinderung geworden.

Erika Steiger und Mirko Baur sind sich zusammen mit dem Stiftungsrat einig, dass das so bleiben soll. Zusätzlich geschaffen wurde daher die Stabsfunktion „Forschung und Entwicklung“, die Erika Steiger ab September übernimmt. Sie bleibt damit der Tanne aktiv verbunden.

Mehr Kinder und ihre Familien besser erreichen
Ihr Nachfolger in der Gesamtleitung, Mirko Baur, übernimmt eine Institution in gutem Zustand, die in die Zukunft investiert. Der Sonderpädagoge war jahrelang Leiter einer Sonderschule im Zürcher Oberland, bevor er als Sonderschulberater zur Bildungsdirektion des Kantons Zürichs wechselte. In der Bildungsdirektion hat Baur unter anderem die Einführung des Standardisierten Abklärungsverfahrens (SAV) geleitet, das die Zuweisung zur Sonderschulung auch im Kanton Zürich vergleichbarer machen wird. Intensiv beschäftigt war er zudem mit der kantonalen Versorgungsplanung für die Sonderschuleinrichtungen.

Diesbezüglich sei auch die Tanne gefordert. Gemäss aktuellen Erkenntnissen gäbe es in der Deutschschweiz allein im Schulalter ungefähr 60 Kinder und Jugendliche mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit. Dabei verschiebe sich das Spektrum hin zu schweren mehrfachen Behinderungen und treffe sich dort mit den Bedürfnissen von Kindern mit verwandten Formen von mehrfacher Sinnesbehinderung, die oftmals unterdiagnostiziert seien. Umso wichtiger seien eine gute Erfassung der betroffenen Kinder und ihrer Familien, aufsuchende Beratung und Unterstützung (B&U) sowie eine angepasste Infrastruktur in der Tanne selber. Die jetzigen Räumlichkeiten der Tanne sind zwar schön, aber zu eng, und sie entsprechen den Bedürfnissen der Klientel nicht mehr. Die heutigen Kinder brauchen viel Platz und eine ausgesprochen starke räumliche Unterstützung für eine grösstmögliche Teilhabe an Lernen und Entwicklung.

Partizipation an Arbeit und Beschäftigung stärken
Auch bei den Angeboten für Erwachsene ortet Mirko Baur Entwicklungspotential: „Es ist schon heute so, dass viele unserer Kinder und Jugendlichen mit Eintritt ins Erwachsenenalter in der Tanne bleiben.“ Es brauche daher in den nächsten Jahren etliche neue Plätze. Daneben hat Baur unter anderem die konzeptionelle Weiterentwicklung der Tagesstätte im Blick: Die zentrale Frage sei dabei, was „Normalisierung“ und „Partizipation“  im Lebensbereich Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit Hörsehbehinderung und mehrfacher Sinnesbehinderung bedeute, und in welchem allgemeinen Rahmen eine individuell sinnvolle und bedeutsame Tages- und Wochenstruktur gestaltet werden könne. Ein zeitlicher Ausbau der Tätigkeit in der Tagesstätte sei dabei eines von vielen, zweifellos spannenden Themen.

Passende Räume schaffen: Neubau und Umbau
Um den Raumbedarf aufzufangen, behilft sich die Tanne im Moment mit dem Bau eines Pavillons, der die Platzbedürfnisse in der Schule in den nächsten zwei Jahren überbrücken soll. Dann steht ein Neubau auf dem Plan, gleich anschliessend an das heutige Gelände der Tanne. Dieser soll zwei zusätzliche Wohngruppen für Erwachsene und einen leicht erweiterten Früh- und Schulbereich unterbringen, unterbringen, zusammen mit einer neuen integrativen Kindertagesstätte, die dann auch Kindern aus der Umgebung ohne Behinderung offen steht.

Kompetenz der Mitarbeitenden sichern
Eine letzte Herausforderung ist strategischer Art: Es geht um die Sicherung und Entwicklung der fachlichen Kompetenz der Mitarbeitenden: Wertvolle Kenntnisse im Umgang mit schwer sinnesbehinderten Menschen werden in der Tanne selbst vermittelt. Alle neuen Mitarbeitenden durchlaufen aktuell ein rund zweijähriges Einführungsprogramm. Diesem möchte Baur eine nachhaltige Basis verschaffen. Dafür wurde die vorgängig bestehende Stelle für Wissensaufbau und –transfer neu fokussiert auf das rund zweijährige Projekt „Tanne Grundkompetenz“. Erarbeitet wird ein modulares Schulungsprogramm, das Wissen, Können und Wollen möglichst alltagsnah und praktisch verankert. Neben der Vermittlung von fachspezifischen Kompetenzen etwa im hörsehbehinderungsspezifischen Kommunikationsansatz „Co-Creating Communication“ gehört dazu auch das Bewusstsein für inter- und transdisziplinäre Lösungen: „Das A und O in einer Organisation wie der Tanne ist die Abstimmung unter den verschiedenen Fachpersonen“, schildert Erika Steiger ihre Erfahrungen. Auch diesbezüglich sind sich Vorgängerin und Nachfolger einig: „Schliesslich sollten wir für und mit den Klientinnen und Klienten nicht möglichst Vieles nebeneinander, sondern vor allem das wirklich Wichtige konzertiert tun.