Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche mit CVI

Ebenso vielfältig und unterschiedlich wie die die Auswirkungen von CVI sein können, sind auch die Bedürfnisse der betroffenen Menschen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es daher wichtig, ihre besonderen Bedürfnisse zu erkennen, um sie bei einer angemessenen (schulischen) Entwicklung zu begleiten.  

von Susanne Mundhenk*

Im Alltag und im schulischen Lernen sind sehr individuelle Unterstützungsangebote bzw. Nachteilsausgleiche erforderlich, je nachdem, ob  jemand
a) aufgrund einer so genannten Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) seine Mitmenschen nicht unterscheiden kann oder
b) wegen einer Beeinträchtigung der Formerkennung (Formagnosie) beispielsweise die Form von Buchstaben nicht erkennt oder
c) von einer Vielfalt visueller Reize schnell überfordert ist und Details nicht ausfiltern kann (Crowding effect), um nur einige der häufigsten Erscheinungsformen von CVI zu benennen.

Auf zwei Zeilen sind hier übereinandergelegte Buchstaben sichtbar. Das Bild soll den Crowding effect widerspiegeln, wenn Buchstaben plötzlich verschwimmen. Bild: Suanne Mundhenk

„Crowding effect“: Buchstaben verschwimmen Bild: Suanne Mundhenk

In der Regel sind diese Auffälligkeiten statisch und können nicht durch Training oder Therapie „beseitigt“ werden. Daher ist hier eine sehr genaue Diagnostik erforderlich, um die jeweiligen individuellen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu erkennen und im pädagogischen Umgang mit ihnen berücksichtigen zu können.

Nachteile ausgleichen

Im Folgenden sollen am Beispiel von J. einige Überlegungen zu Nachteilsausgleichen dargestellt werden: J. besucht die zweite Klasse der Grundschule. Sie ist eine aufgeweckte Schülerin. Ihre Konzentrationsphasen wirken allerdings kurz, und mit dem Lesenlernen hat sie große Schwierigkeiten. Eine augenärztliche Untersuchung ergibt eine Sehschärfe für die Ferne von 100 Prozent.

Eine Überprüfung des funktionalen Sehens durch ein Förderzentrum für Sehgeschädigte zeigt, dass die Ergebnisse des Augenarztes bestätigt werden, wenn J. einzelne Sehzeichen benennen soll. Stehen die Zeichen enger beieinander oder sind gruppiert wie in Wörtern, sinkt J.s Sehschärfe in der Ferne auf 50 Prozent, in der Nähe sogar auf 30 Prozent ab. Weiterführende Diagnostik bestätigt, dass bei J. ein „Crowding effect“ vorliegt. Es ist für sie sehr anstrengend, sich in einer komplexen Situation (wie beispielsweise in einem Supermarkt) zu orientieren. Dieses schlägt sich auch im Unterricht in einer Klasse mit 26 Kindern und den dort bestehenden vielfältigen visuellen Reizen und Anforderungen zum Ausfiltern nieder: Wo sitzt das Kind, das gerade gesprochen hat? Wo ist das Buch, in dem jetzt gearbeitet werden soll, im Regal zu finden? Welches Wort an der Tafel soll abgeschrieben werden? Wo im Lesebuch steht der Text zwischen all den bunten Bildchen? u.s.w. All dieses zu erkennen kostet J. soviel Kraft und Konzentration, dass sie immer wieder Erholungspausen benötigt. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist also nicht eingeschränkt, wird aber übermäßig beansprucht, um sich im Umfeld und Alltag visuell zu orientieren.

Als Nachteilsausgleich kann hier hilfreich sein, Situationen mit visuell reduzierten Anforderungen zu schaffen: Eine sauber gewischte und klar strukturierte Tafel mit kontrastreicher Kreide und ohne Bilder an der Wand daneben, ein Arbeitstisch für J., auf dem nur das liegt, was gerade benötigt wird. Hilfreich kann für Einzelarbeitsphasen auch ein Tisch sein, an dem J. mit dem Blick zur Wand sitzen kann oder ein aus Pappe gebautes „Büro“, das auf dem Schultisch aufgestellt werden kann, um visuell störende Reize auszublenden.

Bezüglich der Arbeitsmaterialien kann J. beschreiben, dass die Buchstaben im Lesebuch oder auf Arbeitsblättern für sie zu „tanzen“ scheinen, sich bewegen und so verrutschen, dass sie teilweise übereinander liegen. Erst wenn die Buchstaben massiv vergrößert werden und der Buchstaben- und Zeilenabstand erweitert ist, sind Wörter für J. statisch, so dass sie anfangen kann, sie zuverlässig zu erkennen und zu unterscheiden, um so den Leselernprozess neu zu beginnen. Auch ein Lesefenster, das nur jeweils eine Zeile frei lässt, wird als hilfreich empfunden. Bilder, die den Text dekorieren, sind für J. eher störend. So werden aus Schulbüchern und Arbeitsblättern jeweils die Textanteile herausgeschnitten, vergrößert und als Einzelteile auf Seiten aufgeklebt, um J. nur das Erforderliche anzubieten und visuelle Störeffekte möglichst auszuschalten.

Mit diesen und weiteren Nachteilsausgleichen kann J. angemessen am schulischen Lernen teilnehmen.

Wahrnehmungen abfragen, individuelle Lösungen finden

Bei CVI ist es immer wieder wichtig, die betroffenen Kinder und Jugendlichen gezielt nach ihrer Wahrnehmung zu befragen, um mit ihnen gemeinsam individuelle Lösungen zu finden. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die Sehfähigkeit schwankend und wechselhaft sein kann. Was an manchen Tagen gelingt, klappt an anderen Tagen nicht. Manche Leistungen sind auch nur kurzfristig und bei sehr hoher Motivation möglich.
So irritiert eine Jugendliche, die aufgrund einer Formerkennungsstörung zum Lesen Buchstaben in einer Größe von etwa 4 cm benötigt, ihr Umfeld immer wieder, wenn sie geschickt mit ihrem Handy hantiert und SMS schreibt und liest. Dies ist ihr jedoch nur für kurze Momente möglich, danach verschwimmt ihr alles auf dem Display.

Das Bild zeigt die Fotoaufnahme eines Arbeitsplatzes mit Sichtschutz, um visuelle Reize zu reduzieren. Bild: Susanne Mundhenk

Visuelle Reize reduzieren: Arbeitsplatz mit Sichtschutz Bild: Susanne Mundhenk

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Angebote für Kinder und Jugendliche sehr individuell gestaltet und angepasst werden müssen. Auswirkungen von CVI können für die Umwelt schwer verständlich und widersprüchlich erscheinen und durch augenärztliche Befunde nicht erklärt werden, was oft zu Fehleinschätzungen der visuellen Fähigkeiten führt.

Abschließend möchte ich einen jungen Erwachsenen mit Crowding effect zitieren, der seine Situation wie folgt beschreibt: „Eigentlich ist mein Sehen wie ein Fahrrad. Ich weiß morgens nie, ob ich losfahren kann oder ob ein Reifen platt ist. An manchen Tagen geht es besser, an anderen gar nicht – damit muss ich mich arrangieren.“

* Susanne Mundhenk ist Sonderschullehrerin am Landesförderzentrum Sehen, Schleswig in Norddeutschland und befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema CVI und seinen Besonderheiten.


Literatur:

  • Bals, Irmgard (2009): Zerebrale Sehstörung, Würzburg
  • Dutton, Gordon (2013): CVI – Cerebral Visual Impairment, Würzburg
  • Mundhenk, Susanne (2010):  Die Schleswiger Seh-Kiste, Würzburg, 2. Auflage
  • Zihl, Josef / Priglinger, Siegfried (2012): Sehstörungen bei Kindern. Diagnostik und Frühförderung, Wien, New York