Ein Interview mit SZBLIND-Ressortleiter Stephan Mörker über die Zukunft der Hilfsmittel

Von Ann-Katrin Gässlein

SZB-Ressortleiter Stephan Mörker berät eine Kundin in der neuen Ausstellung in Lenzburg: „Vielleicht verkaufen wir bald weniger Hilfsmittel, fördern aber die Entwicklung und Produktion von integrierten Lösungen.“ Bild: Damian Imhof, kurzschuss GmbH

SZBLIND-Ressortleiter Stephan Mörker berät eine Kundin in der neuen Ausstellung in Lenzburg: „Vielleicht verkaufen wir bald weniger Hilfsmittel, fördern aber die Entwicklung und Produktion von integrierten Lösungen.“
Bild: Damian Imhof, kurzschuss GmbH

tactuel: Stephan Mörker, lass uns noch mal einen Blick in die Geschichte werfen: Welche waren die ersten Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen?
Stephan Mörker: Der weisse Stock, dann folgte die Blindenschrift, und zu den Klassikern gehören auch der Blindenführhund und die Lupe. In diesem Bereich gab es die ersten Hilfsmittel.

Weisser Stock und Blindenführhund sind Orientierungs- und Mobilitätshilfen, Lupe und Blindenschrift sollen das Lesen ermöglichen. Wie stand es aber um die Nutzung von Haushaltsgeräten?
Die erste Generation von Haushaltsgeräten nach dem Zweiten Weltkrieg war für blinde und sehbehinderte Menschen recht gut geeignet. Die Geräte waren manuell bedienbar und mit Knöpfen ausgestattet. Sie waren grundsätzlich zugänglich, und es gab noch keine Digitalisierung mit Touchscreens.

Wie sah der nächste Entwicklungsschritt in Sachen Hilfsmittel aus?
Während der 1970er und 80er Jahre herrschte Aufbruchsstimmung: Technisch war immer mehr möglich, und von Seiten der Blindenbewegung wurden Wünsche geäussert. Diktiergeräte kamen in Mode – nun konnte man Notizen aufsprechen und abhören. Auf der anderen Seite wurde vieles schwieriger.

Kannst du ein Beispiel nennen?
Nehmen wir die Schreibmaschine: Diese konnte früher jede Sekretärin auch „blind“ bedienen. Doch sie wurde durch den Computer abgelöst, und Bildschirmarbeit funktioniert nun einmal visuell. Die „Standardlösung“ war nun nicht mehr für alle zugänglich. Also brauchte es für blinde und sehbehinderte Menschen Adaptionen. Die Zeit der – ich nenne sie mal – „Insellösungen“ brach an. Softwarelösungen wurden entwickelt, die visuelle Informationen in eine Sprachausgabe,  ein Vergrösserungsprogramm oder in die Braillezeile übersetzten.

Und heute hat sich wieder etwas geändert?
Heute wissen wir, dass bei neuen technischen Errungenschaften integrierte Lösungen möglich sind.

Definiere doch bitte „integrierte Lösungen“.
Damit meine ich Artikel, die grundsätzlich für alle Menschen entwickelt wurden: keine „Hilfsmittel“, sondern „Mittel für alle“. Den ersten Schritt in diese Richtung machte die Firma Apple: Mit dem iPhone entwickelte sie einfache und intuitive Eingabemöglichkeiten für alle Menschen. Es handelt sich ja um eine kindliche Gestik: Man nimmt einen Finger und drückt auf etwas. Ganz einfach – aber genial einfach. Und dank der integrierten Sprachausgabe sind die Geräte auch für blinde und sehbehinderte Menschen problemlos nutzbar. Es braucht keine Sonderlösungen mehr.

Ein Blindenlangstock, ein Daisygerät, ein iPhone: Hilfsmittel haben sich von Insellösungen hin zu integrierten Lösungen entwickelt. Bild: Damian Imhof, kurzschuss GmbH

Ein Blindenlangstock, ein Daisygerät, ein iPhone: Hilfsmittel haben sich von Insellösungen hin zu integrierten Lösungen entwickelt.
Bild: Damian Imhof, kurzschuss GmbH

Gerätehersteller sollten sich also auf taktile Anwendungen und Sprachausgaben konzentrieren?
Sie sollen sich bei der Weiterentwicklung ihrer Geräte von der Überlegung leiten lassen: Was ist wirklich nützlich? Und wie können wir es umsetzen? Ich bin überzeugt, dass in allen Bereichen integrative Lösungen möglich sind

Warum? Sind integrative Lösungen zu teuer?
Nicht unbedingt. Das Potential wird einfach nicht erkannt. Wir haben aber eine demographische Entwicklung, die in wenigen Jahren Seniorinnen und Senioren – mit Seh- und Hörproblemen – zu einer wichtigen Zielgruppe machen wird. Es handelt sich keineswegs um die soziale Verantwortung für eine Kleinstgruppe, sondern um einen Markt mit Kaufkraft. Und ich bin sicher: Wer sich an den Bedürfnissen der Schwächsten orientiert, handelt wirklich innovativ.

Was unternimmt der SZBLIND, um integrierte Lösungen zu fördern?
Meistens werden wir von einer sehbehinderten Person auf ein gutes Beispiel aufmerksam gemacht. Dann gehen wir auf die Firma zu, die das Produkt herstellt. Oft entsprang die Lösung einer Intuition! Wir testen das Gerät mit blinden und sehbehinderten Anwenderinnen und Anwendern und Fachpersonen, machen eine schriftliche Auswertung der Rückmeldungen und geben diese an die Firma zurück.

Das heisst, ihr unterstützt diejenigen, die schon auf gutem Wege sind…
Bislang wenden wir uns an diejenigen Adressen, wo Potential erkennbar ist. Es ist aber vor allem zeitaufwändig und wenig effizient. Der SZBLIND bräuchte ein Konzept, wie Haushaltsgeräte entwickelt werden müssten. Dieses Konzept – und das finde ich ganz wichtig – müsste mit den Ansätzen in anderen Ländern abgestimmt sein.

Warum würde der SZBLIND von einer internationalen Zusammenarbeit profitieren?
Weil es letztlich um Normengebung geht. Es braucht internationale Normen für zugängliche Geräte! Diese können entstehen, wenn Erfahrungen aus verschiedenen Ländern zusammengetragen werden. Ich kann mir vorstellen, dass der SZBLIND langfristig weniger Hilfsmittel verkauft als vielmehr den traditionellen Markt sensibilisiert: bei der Beleuchtung, bei der Beschriftung, der Produktanschreibung.

Welche Hilfsmittel werden in der Zukunft für blinde und sehbehinderte Menschen wichtig?
Was könntest du dir vorstellen?

Vielleicht zugängliche Buchhaltungssoftwäre, um die berufliche Integration zu verbessern?
Aus meiner Sicht ist das Digitalfernsehen am wichtigsten! Der Fernseher ist für ältere Menschen oft der wichtigste Zeitvertreib. Früher waren Menschen darauf angewiesen, zu erfahren, wann eine Sendung beginnt und endet, ob sie eine Audiodeskription hat, etc. Heute gibt es über 200 Sender, und man kann alle möglichen Informationen auch ohne Programmzeitschrift einholen: Wer spielt in dem Film mit? Wie kann ich weiterspringen zu einem Werbespot, bei dem der Schauspieler mitspielt?

Verständlich, aber ist es nicht bedrückend, wenn man sich nur auf den Fernsehkonsum konzentriert? Sollte nicht soziale Integration für blinde und sehbehinderte Menschen gefördert werden?
Das eine schliesst das andere überhaupt nicht aus. Aber wir müssen realistisch sein: Je älter Menschen werden, desto länger bleiben sie auch zu Hause. Die Phase des hohen Alters kann lange dauern, und dann werden ausserhäusige Aktivitäten immer seltener. Wir müssen darauf schauen, dass wir die Lebensqualität dieser Menschen in allen Bereichen verbessern.

Besten Dank für das Gespräch!