Ein Gespräch mit Christina Fasser über die Entwicklung der AMD-Beratung

Seit 1991 ist Christina Fasser Geschäftsleiterin von Retina Suisse. Ende 2014 wird sie pensioniert. Fast 25 Jahre lang hat sie die Geschickte der grössten Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Retinitis Pigmentosa, Makuladegeneration, Usher-Syndrom und anderen degenerativen Netzhauterkrankungen geleitet.

Von Ann-Katrin Gässlein

«Heute gibt es Behandlungsmöglichkeiten wie nie zuvor.» Retina Suisse-Geschäftsführerin Christina Fasser. Bild: kurzschuss GmbH

«Heute gibt es Behandlungsmöglichkeiten wie nie zuvor.» Retina Suisse-Geschäftsführerin Christina Fasser.
Bild: kurzschuss GmbH

Frau Fasser, was sind die augenscheinlichsten Veränderungen, die sich zwischen 1991 und heute bei Ihrer Arbeit ergeben haben?
Zu Beginn meiner Arbeit sprachen wir vor allem Personen mit erblichen Netzhautdegenerationen (Retinitis pigmentosa, Usher Syndrome, Stargardt etc.) an. Seit 1998 haben wir unser Informationsangebot auch auf die Altersbedingte Makuladegeneration ausgedehnt.

Wie kam es zu dieser strategischen Ausweitung?
Retina Suisse hat zwei Kernaufgaben: die Förderung der wissenschaftlichen Forschung und die Information von Betroffenen und Angehörigen. Die Forschung hat viele Ähnlichkeiten zwischen der erblichen Makuladegeneration und der AMD festgestellt. Zum Beispiel wurde die Apoptose, der „programmierte“ Zelltod, bei der erblichen Netzhautdegeneration erstmals nachgewiesen, und er ist auch ein Faktor bei der geographischen Atrophie, also der trockenen AMD. Die Sehprobleme sind die gleichen; immer kommt es zum zentralen oder peripheren Gesichtsfeldausfall.

Ist AMD ein typisches Altersleiden?
AMD ist eine komplexe Erkrankung. Für einen 70-Jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit, an AMD zu erkranken, bei etwa 20 Prozent. Wenn man raucht und eine entsprechende genetische Disposition hat, liegt sie schon bei 35 Prozent. Zehn Jahre später, im Alter von 80 Jahren, ist das Risiko für AMD natürlich höher. Wer 100 Jahre alt wird, leidet mit ziemlicher Sicherheit auch an AMD. Insofern hat die steigende Lebenserwartung der Menschen in der Schweiz auch unmittelbare Folgen für uns als Organisation, die über AMD informiert und berät.

Wie wenden sich betroffene Menschen an Retina Suisse?
Die Menschen werden vom Augenarzt auf uns aufmerksam gemacht, finden uns auf dem Internet und kontaktieren uns vor allem auch per Telefon. Viele Kontakte ergeben sich bei unseren öffentlichen Vorträgen und Veranstaltungen. Dort finden sich vor allem Personen, die ein medizinisches Interesse am Thema haben. Wir führen immer auch eine kleine Ausstellung von Hilfsmitteln mit. Der persönliche Kontakt mit einer Beratungsstelle ergibt sich meist nach einem Augenarztbesuch, wenn die Diagnose feststeht. Davor waren die Menschen häufig beim Optiker, weil der Blick trotz Brille immer unschärfer wurde, und es letztlich hiess: „Da kann man jetzt nicht mehr machen.“

Was wollen die Menschen mit AMD von Retina Suisse wissen?
2001, als wir die ersten Informationsveranstaltungen durchgeführt haben, kamen die Menschen mit ganz anderen Fragen als heute. Heute sind sie viel besser informiert. Die Bereitschaft, auch im Internet nach Informationen zu suchen, ist gross, und oft helfen Kinder oder Grosskinder dabei. Trotzdem gibt es noch viele Fragen an die medizinischen Fachpersonen, vor allem wenn zu einer Makuladegeneration noch weitere Augenerkrankungen wie Grauer Star hinzukommen.

Was macht den Menschen mit AMD am meisten Sorgen?
Am meisten macht ihnen zu schaffen, dass sie nicht mehr gut lesen und Gesichter nur noch schwer erkennen können – das sind die Hauptfolgen beim zentralen Gesichtsfeldausfall. Mit der Mobilität haben sie meist kein grosses Problem. Aber zu akzeptieren, dass man nie mehr scharf sehen wird, das müssen die Menschen erst einmal verwinden.

Wie sehen die Therapiechancen für AMD aus?
Grundsätzlich sind die Voraussetzungen für AMD-Therapien in der Schweiz sehr gut. Die medizinischen Behandlungen sind auf der Höhe der Zeit. 2001 kam die erste Behandlung für AMD, die photodynamische Therapie auf, welche eine Verlängerung des Sehvermögens um Jahre ermöglichte. 2006 kamen die Anti-VEGF-Behandlungen, das war eine Revolution. Und davon können die Patientinnen und Patienten mit feuchter Makuladegeneration profitieren! Und wir haben kurze Distanzen zu den Augenkliniken, die diese Therapien anbieten.

Was ist noch entscheidend, wenn man die Diagnose AMD erhält?
Der Umgang mit AMD hängt davon ab, ob man selbst gute Bewältigungs-Strategien hat. Das sind Strategien, die helfen, mit negativen und problematischen Entwicklungen umzugehen. Wer sich mit dem Thema auseinandersetzt und sich fragt: Was kann ich selbst tun, um meinen Alltag so gut wie möglich weiterzuführen, der ist schon auf einem guten Weg. Viele Menschen verfügen im Alter schon über recht gute Bewältigungsstrategien, weil vieles in ihrem Leben nicht so gelaufen ist, wie sie es sich vorgestellt haben. Doch wer keine guten Copingstrategien hat, will gar nichts wissen, verweigert sich, bleibt zu Hause, verbirgt sich und fällt möglicherweise in eine Depression.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte spielen sicher auch eine Rolle für den Umgang mit AMD. Wo sehen Sie die grössten Veränderungen?
Die Menschen bleiben heute tendenziell länger alleine in ihrem Zuhause; sie wohnen dort, solange es geht und zögern einen Heimeintritt hinaus. Das hat für die AMD-Therapie meiner Einschätzung nach positive Auswirkungen – solange die Menschen ihrem geregelten Tagesablauf nachgehen, wozu auch Arztbesuche und Medikamentenkuren gehören.

Kann ein Therapieabbruch bei Feuchter AMD zu einem Sehverlust führen.
Gerade bei der feuchten AMD darf die Therapie nicht unterbrochen werden. Über die „Abbrecher“ gibt es kaum Untersuchungen. Für viele ist vielleicht das Alter irgendwann zu beschwerlich; sie können und wollen nicht mehr regelmässige Arztbesuche auf sich nehmen. Andere kommen nicht mehr zur Therapie, weil sie verstorben sind. Die grösste Herausforderung für die Patienten während der AMD-Therapie besteht darin, dass sie meistens keine Verbesserung wahrnehmen, d.h. die Makuladegeneration ist stabilisiert worden. Der Zustand des Sehens bleibt im besten Fall gleich. Für viele Menschen ist es schwierig, sich dabei über lange Sicht zu motivieren, einfach, weil sie sich fragen: „Was soll das überhaupt bringen?“ Dabei wird vergessen, dass ohne Behandlung innert kurzer Zeit ein starker Abfall der Sehschärfe eintritt und daher die Stabilisierung der Krankheit ein Riesenerfolg ist!

Wie bewerten Sie die Zukunft für die AMD-Patientinnen und –Patienten?
Ich bin sehr optimistisch, was die medizinische Forschung betrifft. Es gibt verschiedene Ansätze, zum Beispiel bei der Neuroprotektion, Versuche, den Zelltod an der Makula zu verhindern; auch erste Versuche mit Stammzellen sind bereits durchgeführt worden. Therapieversuche brauchen Zeit um herauszufinden, welche Therapieansätze wirklich wirksam sind und welche nicht. Auf der anderen Seite gibt es heute technische Möglichkeiten wie nie zuvor. Mit Hilfsmitteln kann man eine Menge erreichen. Oft braucht es nicht einmal spezielle Mittel. Das iPad beispielsweise ist super für Personen mit AMD, weil man einen hohen Kontrast einstellen, Schriften und Fotos vergrössern – und damit das Lesen für längere Zeit ermöglichen kann.

Besten Dank für das Gespräch!