Exzentrisches Sehen in der Low Vision Praxis

Mit dem Thema „Exzentrisches Sehen und seine Anwendung bei der Gesichtserkennung“ beschäftige ich mich schon lange. Es war Thema meiner Diplomarbeit im Jahr 2012 und betrifft die Frage, die sich in der Low Vision-Arbeit häufig stellt: Kommt es beim Zentralskotom durch bewusst gesteuerte Veränderung der Blickrichtung im Gegensatz zur spontanen Blickrichtung zu einer subjektiv verbesserten Gesichtserkennung?

Von Marion Eissfeldt

„Bewusst gesteuerte Blickrichtung“ – damit ist der Zustand gemeint, der herrscht, bevor eigentlich vom „exzentrischen Sehen“ gesprochen werden kann. Exzentrisch meint, dass sich das Auge aus seiner ursprünglichen „Geradeaus“-Richtung in eine neue Richtung ablenkt. Der Klient oder die Klientin blickt dann beispielsweise auf einen Punkt über der Stirn, um das Gesicht darunter besser zu erkennen. Ein solcher abgelenkter Sehwinkel kann am Anfang einer Therapie oft nur zeitweise eingenommen werden. Man muss erst lernen, so zu sehen. Erst wenn der Winkel stabil beibehalten werden kann und sich auch „neuronal“ etwas getan hat, spricht man vom exzentrischen Sehen. Wie wendet man nun das Training zum exzentrischen Sehen für eine bessere Gesichtserkennung in der praktischen Low Vision-Arbeit an?

Was bei der Änderung der Blickrichtung geschieht
Eine absolut wichtige Voraussetzung ist ein Zentralskotom, also mindestens ein Skotom, das am Netzhautzentrum liegt. Dies meint, dass die Sinneszellen der Netzhaut im Zentrum, im „Ort des schärfsten Sehens“ erkrankt sind und ihre Funktion teilweise oder ganz verloren haben. Die häufigste Ursache für ein Zentralskotom ist die Makuladegeneration.
Das exzentrische Sehen bedeutet, vereinfacht gesagt, dass Aufmerksamkeit und Blickrichtung getrennt werden: Somit können gesunde Netzhautstellen gewisse Funktionen übernehmen. Was genau dabei im Auge geschieht, kann hier nur gestreift werden. Diese Trennung ist anfänglich nicht stabil: Abwechselnd kommt es zu exzentrischer und zu zentraler Fixation (Fixation ist funktional gemeint und bezeichnet das Ausrichten der Augenachse auf einen Punkt). Dies macht das Sehen sehr anstrengend. Trotzdem ist es unerlässlich, zu üben – und die Übungen sollten von den Klienten auch selbstständig durchgeführt werden.

Hohe Konzentration ist gefordert

Das Ampelmännchen im Strassenverkehr: Im Alltag muss die „beste“ Blickrichtung an pro-fanen Dingen geübt werden. Bild: Ann-Katrin Gässlein

Das Ampelmännchen im Strassenverkehr: Im Alltag muss die „beste“ Blickrichtung an profanen Dingen geübt werden.
Bild: Ann-Katrin Gässlein

Zu Beginn der Massnahme steht die Suche nach Netzhautstellen, die geeignet sind, die verlorene Funktion der zentralen Netzhautstellen zu übernehmen. Sie müssen sich ausserhalb der beschädigten Netzhautbereiche befinden. Es bildet sich dort ein so genanntes PRL (Preferred Retinal Locus). Dieser Ort auf der Netzhaut bekommt dann vom System Auge-Gehirn eine „neue Verschaltung“. Das, was als „geradeaus“ wahrgenommen wurde, hat einen neuen Ort auf der Netzhaut bekommen.
Die Methoden, um diese Bereiche aufzufinden, können unterschiedlich sein. Ich benutze dazu mein Gesicht und ein dem Visus entsprechendes gut zu erkennendes grosses Kreuz auf weissem Karton. Das Kreuz wird seitlich, in unterschiedlichen Richtungen und Abständen von meinem Gesicht, dem Klienten oder der Klientin gezeigt. Er oder sie wird dazu aufgefordert, sich auf dieses Kreuz zu konzentrieren und gleichzeitig mein Gesicht zu beobachten. Das heisst, seine oder ihre Blickrichtung ist auf das Kreuz und die Aufmerksamkeit auf mein Gesicht gerichtet. Dies benötigt eine hohe Konzentration.
Im nächsten Schritt muss beurteilt werden, bei welchem Abstand und in welcher Richtung das Gesicht am besten gesehen wird. Es braucht hier viel Fingerspitzengefühl und eine Systematik, um die „beste“ Blickrichtung für die bessere Gesichtserkennung herauszufinden. Diese so gefundene Richtung wird dann auf eine Alltagssituation übertragen. So können das Ampelmännchen oder eine Markierung am TV dazu dienen, diese Richtung zu „lernen“. Es war auch schon mal ein Blumentopf!

Voraussetzungen für erfolgreiches Training
In meiner Diplomarbeit habe ich mich auf die Gesichtserkennung beschränkt. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, dass auch Texte exzentrisch gelesen werden können. Dazu können auch andere Netzhautstellen gefunden werden, als diejenigen, die sich für die bessere Gesichtserkennung eignen. Der Klient oder die Klientin können unterschiedliche PRLs für unterschiedliche Sehaufgaben nutzten. Es gibt dazu auch PC-Programme für ein systematisches Lesetraining.

Folgende Aspekte halte ich für besonders wichtig, um zu einem guten Ergebnis zu kommen:

  • Beim Erlernen des exzentrischen Sehens muss man vom Einfachen zum Schwierigen gehen.
  • Das exzentrische Sehen gelingt jedem Klient und jeder Klientin unterschiedlich gut und wird oft als anstrengend beschrieben. Die Belastbarkeit der Person ist dringend zu beachten.
  • Wenn Klienten nicht in der Lage sind, Aufmerksamkeit und Blickrichtung zu unterscheiden, ist das Ergebnis der Bemühungen meist unbefriedigend.
  • Einige Klienten setzen das exzentrische Sehen bereits ein, ohne dass es ihnen bewusst war. Sie können durch das Training lernen, es bewusster einzusetzen.

Nach erfolgreichem Training erhielt ich von den Klienten Aussagen wie: „Das Gesicht wird heller“, „Ich sehe die Mundform des Gesichtes etwas besser“ oder „Der Teint ist besser erkennbar“. Die Veränderungen werden generell eher als geringfügig beschrieben und der zeitliche Aufwand für diese Art von Training kann sehr intensiv sein. Trotzdem gibt es immer wieder Erfolgserlebnisse! Daher kann ich empfehlen, das für Klienten mit Zentralskotom und für die Low Vision-Fachpersonen doch anspruchsvolle Training zu lernen.