Die Entwicklung der Digitalisierung – einem Prozess, bei dem ein physisches Objekt in einen digitalen Code übertragen wird – hat in den letzten Jahren derart Fahrt aufgenommen, dass wir das Phänomen als Normalität betrachten. Omnipräsent in unserem Alltag, zum Beispiel beim Zahlen am Automaten, beim Kommunizieren oder als Social Media, hat die Digitalisierung in Gestalt von Applikationen im Bereich der Lebenspraktischen Fähigkeiten Einzug gehalten.

Pedro Pessoa, Ergotherapeut in der Rehabilitation und Low Vision der Stiftung Asile des aveugles in Lausanne

Die Digitalisierung soll Personen, die bisher von gewissen Angeboten ausgeschlossen waren, physische Angebote und alternative Informationsangebote erschliessen, sie automatisieren, rationalisieren und beschleunigen.

Daher wimmelt es auf den Smartphones von blinden Personen, von Nutzerinnen und Nutzern mit einer Sehbeeinträchtigung und von Fachpersonen im Bereich Lebenspraktische Fähigkeiten von effizienten Applikationen wie Seeing Al, BeMyEyes oder BlindSquare, um nur einige wenige von vielen zu nennen. Zu den behinderungsspezifischen Applikationen kommen diejenigen dazu, auf die der Zugriff mittels Talkback oder Voiceover möglich ist, wie die sozialen Netzwerke, E-Banking, GPS usw.

Die Digitalisierung hat neue Optionen für die Lebenspraktischen Fähigkeiten erschlossen und die Unterstützungsmöglichkeiten im Rehabilitationsprozess erweitert, sodass bisweilen die Ausübung von Aktivitäten, die nicht mehr möglich oder sehr zeitaufwendig und anstrengend waren, wieder möglich wurde.

Mehr Autonomie im Alltag

Das Konzept der «Welfare Technology» wurde von den skandinavischen Ländern ins Leben gerufen. Es soll die Entwicklung von Technologien zur Steigerung und/oder Stabilisierung der Sicherheit, der sozialen Teilhabe und der Autonomie von Personen mit einer Behinderung unterstützen und die Technologien noch effizienter machen. Dieses universelle Inklusionskonzept beflügelt Tüftlerinnen und Tüftler von Start-ups, die mit der Entwicklung ihrer Ideen unsere beschränkte Welt der Lebenspraktischen Fähigkeiten ausdehnen und eine kleine Revolution auslösen.

Das Konzept der Welfare Technology ist verantwortlich dafür, dass sich das Angebot an barrierefreien Applikationen vervielfacht hat. Dies eröffnet blinden Personen und Menschen mit einer Sehbehinderung neue Optionen. Dank der kürzlich entwickelten und sehr beliebten App Walkaround bzw. der französischen Version Vocaleo kann unser alter Freund PenFriend vom Smartphone abgelöst werden.

Fachpersonen im Bereich Low Vision und, allen voran, Nutzerinnen und Nutzer müssen längst nicht mehr von den Qualitäten mobiler Apps zur Verbesserung und Vereinfachung des Alltags überzeugt werden. Ein Beispiel:

Frau Ducret ist eine 75 Jahre alte Klientin mit AMD und einer Sehschärfe von 0.1. Sie war für die Erledigung von Zahlungen und Bankgeschäften von ihrem Ehemann abhängig. Seit dem Tod ihres Ehemannes war sie auf die Unterstützung ihres Sohnes angewiesen. Weil dieser ziemlich weit weg wohnte, war er nicht immer dann abkömmlich, wenn Frau Ducret es wünschte. Nach einigen Schulungen, während derer sie sich mit der Nutzung des iPhones, der PostFinance-App und mit der App OCR Prizmo GO vertraut gemacht hat, erledigt Frau Ducret ihre Zahlungen und ihre administrativen Angelegenheiten nun selbständig. Sie kann mit dem Smartphone Zahlungen tätigen und die Dokumente in digitaler Form ablegen, ohne Zeit mit dem Durchsuchen eines Dokumentenordners zu verlieren. So hat sie die Informationen jederzeit zur Hand. Scan und Voiceover ihres Smartphones eröffnen ihr zudem eine Alternative zur visuellen Überprüfung der Dokumente, was sie beruhigt. Ohne Technologie und ohne Applikationen wäre Frau Ducret für die Erledigung der administrativen Angelegenheiten weiterhin auf Hilfe angewiesen. Dazu kommt, dass sie nicht lernen muss, den Weg zur Bank oder zur Post zu finden, weil sie die Bankgeschäfte gefahrlos von zu Hause aus erledigen kann. Damit spart sie Zeit, vermeidet Stress und stärkt ihr Selbstvertrauen.

Barrierefreiheit und Anpassungsfähigkeit

Dennoch gibt es auch Probleme in Bezug auf die Barrierefreiheit der Applikationen und die Bereitwilligkeit der Nutzer-/innen, solche Apps zur Unterstützung der Lebenspraktischen Fähigkeiten beizuziehen. Obschon sie viele unserer alltäglichen Aktivitäten begleiten, ist ein Grossteil der Apps nicht barrierefrei. Die Schweiz verfolgt im Gegensatz zum oben beschriebenen skandinavischen Konzept keine explizite Förderpolitik für technische Hilfsmittel. Obwohl die Schweiz ein innovatives Land ist, sind Unternehmen, Start-ups und private Dienste nicht dazu verpflichtet, barrierefreie Apps anzubieten. Somit müssen gewisse Nutzergruppen bisweilen mit einem Angebot zweiter Klasse Vorlieb nehmen. Die WHO hat in einem 2018 verfassten Bericht festgehalten, dass weltweit  ̶  auch in industrialisierten Ländern  ̶  für 200 Mio. blinde Personen oder Personen mit einer Sehbehinderung der Zugang zu Technologie verwehrt ist, die ihre Inklusion und ihre Lebensqualität erhöhen würde.

Es kann aber auch sein, dass der ursprüngliche Wert einer Aktivität verloren geht für eine Person, die sie mit einem technischen Hilfsmittel realisiert. So ist das Kocherlebnis beim Befolgen eines Kochrezeptes via App nicht das Gleiche wie das Nachkochen des Rezepts aus dem vergilbten, «ältlich» riechenden Kochbuch der eigenen Grossmutter, die handgekritzelte Kommentare hinterlassen hat!

Entscheidend für die Zukunft dieser Aktivität (Kochen im vorliegenden Beispiel) ist damit nicht die Barrierefreiheit, da ja Apps den Zugriff auf Kochrezepte gewährleisten, sondern der Wert und die Bedeutung, die die Person ihr beimisst. Schliesslich gilt es zu bedenken: Wer die eigene Welt revolutionieren und den Schritt zur Nutzung von Applikationen im Alltag und im Beruf wagen will, muss bereit sein, seine Gewohnheiten zu ändern, was je nach Lebensumständen kompliziert sein kann.

Zweifelsohne haben Applikationen den Bereich der Lebenspraktischen Fähigkeiten revolutioniert, indem sie Optionen für die Verfügbarkeit von Informationen, die in analoger Form nicht zugänglich waren, geschaffen, angepasst und strukturiert haben. Allerdings entwickeln manche Menschen angesichts der damit einhergehenden Beschleunigung der Welt eine gewisse Technologiephobie. Diese Personen sollen sich ohne zu zögern an eine Fachperson oder an technologiegewandte Freunde oder Bekannte wenden und sie bitten, ein Hilfsmittel, das ihren Alltag erleichtern kann, für sie anzuwenden. 

Im 21. Jahrhundert und angesichts der aktuellen Möglichkeiten ist es für uns alle äusserst wichtig, die digitalen Instrumente zu beherrschen. Wir sollten das Angebot an Applikationen durchforsten, um die Hilfsmittel aufzuspüren, die uns dabei unterstützen, unsere Lieblingsaktivitäten zurückzugewinnen oder uns einen lang ersehnten Traum zu erfüllen.