Auf den ersten Blick erscheint Segeln ohne Begleitung für eine Person mit einer Sehbeeinträchtigung ein sehr komplexer Sport. Das Genfer Projekt «La Barre Blanche» (Die weisse Pinne) hat sich zum Ziel gesetzt, mit Unterstützung einer Applikationstechnologie das Gegenteil zu beweisen: Segeln ohne Begleitung soll mit der App SARA für Personen mit einer Sehbeeinträchtigung möglich werden.

Carol Lagrange

Der erfahrene Seemann Nicolas Desreumaux ist in erster Linie ein passionierter Segellehrer, dem es am Herzen liegt, seine Leidenschaft weiterzuvermitteln. Während einer Ausbildung erlernte er verschiedene Techniken zur Entspannung und zum Herunterfahren der Gehirnaktivität. Dabei wurden ihm zum Beispiel die Augen verbunden, damit er erspüren konnte, wie das Boot auf die Bewegungen der Pinne reagiert und wie es sich anfühlt, das Boot geradeaus zu steuern, ohne sich auf die Augen zu verlassen. So konnte er seinen Empfindungen beim Navigieren nachspüren und die Sensitivität für seine Eigenwahrnehmung schulen. Im Jahr 2020 lässt er sich in Lyon in der Nutzung der neuen Navigationsapp SARA schulen und segelt drei Tage lang mit verbundenen Augen.

Eine Navigationsapp, die den Horizont erweitert

Mit der App SARA (Sail and Race Audioguide) können Personen mit einer Sehbeeinträchtigung die Informationen, die für die Navigation relevant sind, als gesprochene Meldung empfangen. SARA wurde vom französisch-schweizerischen Trio Marine Clogensen, Informatikingenieurin bei Granite apps im Kanton Neuenburg, Mathieu Simonnet, Präsident der Association Orion in Brest (ein Verein in der Bretagne, der blinde und sehbehinderte Personen bei der Ausübung der Segelpraxis unterstützt) und dem Seefahrer Olivier Ducruix entwickelt. Via iPhone übermittelt SARA in Echtzeit Informationen als Sprachmeldungen, beispielsweise eine Distanz oder eine Richtung, an denen sich die Segelnden orientieren können, oder mit Geopositionsdaten festgelegte Routen. So erhalten die sehbeeinträchtigten Personen navigationsrelevante Informationen und können aktiv an Manövern mitwirken. Die App SARA, die seit Mai 2021 im Apple Store erhältlich ist, nutzt Voice Over zur sprachlichen Übermittlung der Informationen. Sie ist in zwei Ausführungen erhältlich: SARA Regate für vorgegebene Segelrouten und SARA Navigation, die überall einsetzbar ist. SARA Navigation kann auf Informationen aus der Navigationszentrale des Schiffs zugreifen und beispielsweise die Meerestiefe, die Windgeschwindigkeit oder die Distanz zu einem bestimmten Ziel übermitteln. Die Seglerin oder der Segler kann auch manuell Informationen in die App eingeben, zum Beispiel die GPS-Daten von anzusteuernden Bojen.

Kurse für Menschen mit Sehbeeinträchtigung

Nach der Schulung mit SARA reift bei Nicolas Desreumaux eine Idee, die als Projekt «La Barre Blanche» umgesetzt wurde. Mit dem Projekt sollen Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung Zugang zum Segeln erhalten. Zu diesem Zweck sollen Segelkurse oder Schnupperpraktika für das Zielpublikum angeboten werden. «Am Anfang lehren wir blinden oder sehbeeinträchtigten Personen, die Pinne zu lenken, die Segel auszurichten, und wir versuchen, ihre Freude am Wind und am Segeln zu wecken. Danach werden sie in der Nutzung der App SARA geschult, sodass sie ihre Handgriffe korrigieren können. Zu Beginn sind die Lernenden mit Seebeeinträchtigung auf zahlreiche Sprachinformationen via App angewiesen. Doch allmählich schöpfen sie Vertrauen und SARA rückt mehr und mehr in den Hintergrund, sodass die Segelnden voll und ganz den «Wind der Freiheit» geniessen und sich den damit einhergehenden Empfindungen hingeben können.» Wann und wie oft SARA Sprachmeldungen sendet, kann eingestellt werden: Entweder meldet sich die App alle x Sekunden oder beispielsweise bei Überschreiten eines bestimmten Abweichungsgrads vom Kurs, wenn ein bestimmtes Ziel angepeilt wird.

La Barre Blanche möchte eine Crew zusammenstellen, die Regatten auf Seen bestreitet oder einen Segelturn im Mittelmeer, eine Atlantiküberquerung oder eine Regatta auf offener See unternimmt. Eine Crew setzt sich aus vier Personen mit und einer Person ohne Sehbeeinträchtigung zusammen. Letztere gewährleistet die visuelle Überwachung, wie vom internationalen Reglement zur Kollisionsverhütung COLREG vorgeschrieben.

Das vom Kanton Genf unterstützte Projekt «La Barre Blanche» ist angelaufen, und es werden Personen mit einer Sehbeeinträchtigung gesucht, die Lust haben, sich auf das grosse Abenteuer einzulassen. Weiterführende Informationen: contact@labarreblanche.ch oder Tel.: 077 507 15 93.