Hörbuch-Tipp

Nastassja Martin: An das Wilde glauben

„Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist“, schreibt Nastassja Martin, nachdem ein Bär ihr das Gesicht zerfetzt hat. Während der langen Genesungsphase erinnert sie sich zurück an die Zeit davor und fragt sich, ob das Ganze vorhersehbar gewesen wäre.

Martin ist Anthropologin und forscht über arktische Völker. Bei ihrer letzten Forschungsreise auf die von Vulkanstümpfen durchzogene russische Halbinsel Kamtschatka, wo sie die Bräuche und Kosmologien der Ewenen studiert, scheinen ihre einheimischen Freunde zu wissen, dass ihr der Geist des Bären bereits folgt. Die Ewenen haben ihr den Namen „matucha“  gegeben: Bärin. Nachts träumt sie von Bären. Alles scheint auf die schicksalshafte Begegnung hinzudeuten.

Martin beginnt im Zuge der Verarbeitung der Erlebnisse eine beinahe mystische Verbindung mit dem Wildtier zu finden, wie sie auch bei den Ewenen praktiziert wird. Sie geht der Frage nach, was dieses extreme Zusammentreffen zu bedeuten hat, denn dass sich ein Sinn darin verbirgt, steht für sie ausser Frage. Die Suche nach einer neuen Identität, nach einem neuen Selbstverständnis mit einem gezeichneten Gesicht ist aber nicht die einzige Herausforderung für die 29-Jährige. Nachdem ihr in Frankreich die russische Metallplatte im Kiefer durch eine vermeintlich bessere, französische ersetzt wurde, hat sich darauf ein resistenter Keim in ihren Körper geschlichen. Weitere Operationen folgen, Lymphknoten und Zähne werden ihr entfernt.

Die poetische Sprache, mit der Martin ihre Gemütszustände und die sicher fürchterlichen Erlebnisse im Laufe ihrer Genesung beschreibt, stehen in hartem Gegensatz zueinander, und doch sind sie sehr passend. Wie sonst könnte ein Mensch ein solches Erlebnis verarbeiten, wenn nicht mit einem eigenen Narrativ? „Ich kann es mir schwer erklären, aber ich weiss, dass diese Begegnung vorbereitet war. Ich habe seit Langem alle nötigen Weichen gestellt, um mich ins Maul des Bären zu führen […]. Und ich sage mir: Wer weiss, er vielleicht auch.“

  • Martin, Nastassja: An das Wilde glauben

Berlin: Matthes & Seitz, 2021
Ausleihe: DS 52752

Braille-Tipp

Philipp Gurt: Unverschwunden

Der Schriftsteller Lukas Cadisch muss eines Morgens feststellen, dass ihn niemand mehr wahrnimmt. Er stellt sich Menschen in den Weg, schreit sie an – keine Reaktion. Telefonanrufe und Emails kommen nicht an. Auch berühren kann er niemanden; Es fühlt sich an, als würde er zwei gegenpolige Magnete zusammenschieben.

Nach mehreren Tagen, in der sein Zustand unverändert bleibt und er sich langsam damit abfindet, beginnt Lukas sich die wichtigen Fragen des Lebens zu stellen, auch im Hinblick auf die Alzheimererkrankung seines Vaters, auf dessen langsames Verschwinden als Person, das in hartem Kontrast zu seinem eigenen plötzlichen steht. Er beginnt sich zu fragen: Hat er im Leben alles richtig gemacht? Hat er seinen Liebsten alles gesagt, was er noch loswerden wollte? Wie soll er nun weitermachen, wo alles bisher als erstrebenswert Empfundene sinnlos geworden ist?

Gefangen in seiner eigenen Welt, einsam und isoliert von seinen Mitmenschen, ist Lukas gezwungen, sich seinem Selbst zu stellen.

  • Gurt, Philipp: Unverschwunden

Köln: Emons, 2021. 3 Bd. 373 S.
Ausleihe: BG 35997

Alle vorgestellten Bücher sind ausleihbar bei der SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte: nutzerservice@sbs.ch, Telefon 043 333 32 32, www.sbs.ch.