Hocheffiziente Rekrutierungsprozesse und Vorurteile können Menschen mit Behinderungen genauso von der Arbeitswelt ausgrenzen wie simple Treppenstufen vor dem Arbeitsplatz. Umdenken tut in Zeiten des Fachkräftemangels Not. Eine erfolgreiche Personalpolitik schöpft das inländische Fachkräftepotenzial aus, indem sie auf alle Gruppen von Arbeitskräften baut. Der Basler Verein Impulse zeigt mit seinem Label iPunkt, wie das gehen kann.

Von Andrea Eschbach

In der Schweiz herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Doch damit geht ein Problem einher: es herrscht akuter Fachkräftemangel. Um die künftige Lücke am Arbeitsmarkt zu schliessen, schlagen Experten meist vier Lösungen vor: Mehr Einwanderung, mehr Frauen im Beruf, Arbeitslosigkeit senken und ein flexibles Rentenalter. Dabei gäbe es noch eine weitere Möglichkeit, die häufig unbeachtet bleibt: nämlich vermehrt beruflich qualifizierte Menschen mit Behinderungen in den 1. Arbeitsmarkt bringen. So wie Carola Bivona. Die 33-Jährige, die mit der erblichen Netzhauterkrankung Zapfen-Stäbchen-Dystrophie lebt, suchte lange nach einer Arbeitsstelle. „Es war schwierig, eine Stelle zu finden“, erklärt sie. „Sobald die Arbeitgeber erfuhren, dass ich eine Sehbehinderung habe, war ich draussen“.

Carola Bivonas Erfahrungen sind kein Einzelfall. Daten des Bundesamts für Statistik (BFS, 2017) zeigen, dass sich in der Schweiz 75 Prozent der Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben beteiligen. Demgegenüber stehen Menschen ohne Behinderungen, die zu 88,4 Prozent am Arbeitsleben teilnehmen. Wenn Menschen mit Behinderungen Karriere machen möchten, stossen sie in Schulen und Universitäten nicht nur auf Barrieren  bei Infrastruktur und Software. Immer noch viel zu häufig stellen Unverständnis und Vorurteile bei  Arbeitgebenden das grösste Hindernis dar. Das fängt schon beim Rekrutierungsprozess an, erklärt Nicole Bertherin, Co-Geschäftsleiterin der Basler Organisation Impulse: „Oft sind schon die Stellenausschreibungen auf den Webseiten von Unternehmen nicht barrierefrei gestaltet.“ Fehlendes Wissen über spezifische Behinderungsformen führt schnell dazu, dass ein Bewerbungsschreiben aussortiert wird. Und werden Stellensuchende eingeladen, wird im Vorstellungsgespräch auf die Behinderung anstatt die Qualifikation fokussiert. Das Behindertengleichstellungsgesetz regelt ausschliesslich Arbeitsverhältnisse von Mitarbeitenden mit Behinderungen in der öffentlichen Verwaltung auf Bundesebene. Im privaten Sektor fehlt ein Diskriminierungsschutz.

Eine CHARTA gegen Diskriminierung

Hier setzt die gemeinnützige Organisation Impulse an. Der 2011 gegründete Verein will Inklusion in der Arbeitswelt und der Gesellschaft voranbringen. Er ist Träger des Angebots «die CHARTA – Arbeit für Menschen mit Behinderungen». Ziel dieses Arbeitgebernetzwerks ist es, Stellen für Menschen mit Behinderungen im ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, Arbeitgebende zu sensibilisieren und sie beim Abbau von Barrieren zu unterstützen. Mit der Unterzeichnung der CHARTA zeigen Arbeitgebende, dass sie Chancengerechtigkeit leben und Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen nach Qualifikationen beurteilen. Unterzeichnenden Unternehmen bietet «die CHARTA – Arbeit für Menschen mit Behinderungen » Support bei Eingliederungsfragen sowie Veranstaltungen für den Know-how-Transfer. «Arbeitgebende treten einem starken Netzwerk mit Playern aus der Wirtschaft, Politik und aus dem sozialen Bereich bei. Gemeinsam können so die Kräfte gebündelt werden, mit dem Ziel, die Berufschancen für Menschen mit Behinderungen zu fördern», erklärt Nicole Bertherin.

2013 wurde das Label iPunkt lanciert. Es zeichnet Unternehmen im ersten  Arbeitsmarkt aus, die Menschen mit Behinderungen oder einer chronischen Erkrankung neu anstellen oder weiter beschäftigen. Als Vergabestelle des Labels verlangt Impulse die Einhaltung verbindlicher Vergabekriterien. So muss ein Unternehmen mindestens eine Person mit Behinderungen zu Bedingungen des ersten Arbeitsmarktes angestellt haben. Zudem fördert Impulse den Erfahrungsaustausch und das Know-how der zertifizierten Unternehmen sowie deren Vernetzung untereinander und zu Organisationen der Arbeitsmarktintegration. Bald sind 70 Unternehmen und Unternehmenseinheiten ausgezeichnet. „Wir verstehen uns als Brückenbauer“, sagt Nicole Bertherin. „So bieten wir unter anderem einen Stammtisch für den Erfahrungsaustausch unter zertifizierten Arbeitgebenden oder auch eine Hotline für wiederkehrende Fragen zu beispielsweise IV oder Hilfsmitteln an“.

Behindernde Barrieren aufzeigen

Impulse will Barrieren aufzeigen, die Menschen darin behindern, arbeiten zu können. „Das können Treppenstufen vor dem Arbeitsplatz sein oder blendende Sichtverhältnisse am PC, aber auch hohe Erwartungen an die Flexibilität, das Aufgabenvolumen von Mitarbeitenden sowie Vorurteile und Ängste von Führungspersonen und Teams. „Hier scheitert es am ehesten“, sagt Nicole Bertherin. „Es sind die Barrieren in den Köpfen, die Mitarbeitende mit Behinderungen ausgrenzen“. Deshalb sei es umso wichtiger, eine gute Feedback-Kultur im Unternehmen zu etablieren. „Die Mitarbeitenden müssen auch ihre Sorgen und Vorbehalte thematisieren dürfen, sie müssen gehört werden“. Nicht selten ergeben sich so gewinnbringend diversifizierte Teams, die viel Kreativität ins Unternehmen bringen.

Für Stellensuchende mit Behinderungen bietet Impulse ein Mentoring-Programm an – Einzelcoachings, Workshops und Kurse. Daran hat auch Carola Bivona teilgenommen. „Mein Mentor hat mit mir zusammen die Bewerbungen angeschaut und mich zu Vorstellungsgesprächen begleitet“. Mit Erfolg: Carola Bivona arbeitet seit drei Jahren am Empfang und im Sekretariat einer Immobilienfirma in Münchenstein. Barrieren abzubauen lohnt sich – für Arbeitgebende und für Arbeitnehmende, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels.