Aktuelle Themen in der Reha-Ausbildung Orientierung & Mobilität

Im Unterricht und in der Ausbildung zu Orientierung und Mobilität für sehbehinderte und blinde Menschen bewegt sich derzeit viel. Neue Hilfsmittel zur Orientierung verfeinern die klassischen Konzepte, die Methode Klicksonar/ Echoortung bringt neue Möglichkeiten ein und die Angebote für Menschen mit einem noch recht guten Sehvermögen werden weiterentwickelt.

Eine Person mit Langstock und Smartphone in der Hand. Auf dem Smartphone ist eine Navigationsapp zu sehen.

von Karen Finke, Direktorin und fachliche Leitung von IRIS e. V., Institut für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter in Hamburg

Werde ich gefragt «Was sind die aktuellen Themen im Bereich Unterricht und Ausbildung in O&M?», fängt es in meinem Kopf sofort an zu sprudeln: «Echoortung /Klicksonar» (wird im zweiten Schwerpunkt-Artikel dieses Heftes behandelt) oder «Das O in O&M». Hier geht es um die Verfeinerung der klassischen Konzepte sowie um eine Erweiterung, wenn wir uns fragen, wie das Smartphone oder der Orientierungsgürtel von feelSpace integriert werden.

Bei all diesen Themen haben uns die O&M Pioniere der Siebziger- und Achtzigerjahre einen soliden Grundstock an Fachwissen mit auf den Weg gegeben. Schon damals hatten z. B. die Gehörschulung und Echoortung eine grosse Bedeutung in der Arbeit mit blinden Menschen. Auch der Nutzen von Himmelsrichtungen für die Orientierung wurde früh erkannt. Ziel war und ist, sich frei und sicher fortbewegen zu können trotz Sehbehinderung oder Blindheit. Frei unterwegs zu sein, in bekannter und unbekannter Umgebung, an ruhigen oder belebten Orten, am Tag bei Sonnenschein oder bei Nacht. Unabhängig davon, mit welcher Fragestellung aus dem Bereich O&M wir uns als Fachkräfte beschäftigen, stellt sich immer die Frage, wie wir Betroffene darin unterstützen können, die verschiedensten Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, und welche Rahmenbedingungen es dazu braucht.

Navigations-Apps und «Das O in O&M»

Frei unterwegs zu sein, bedeutet auch mal auf einem anderen Weg zum Ziel gehen zu können oder zu einer neuen Adresse zu finden, ohne sich eine Begleitung zu organisieren. Die Navigations- und ÖV-Apps sind eine geniale Ergänzung zu den bisherigen Strategien für die Orientierung in unbekannter Umgebung. Trotz allem ist für eine erfolgreiche Anwendung der Apps ein guter Orientierungssinn der eine «geistige Landkarte» Voraussetzung. Der innere Kompass arbeitet mit und gibt bei heiklen Entscheidungen (ist dies wirklich die Strasse, wo ich rechts abbiegen soll?) – die nötige Sicherheit. Sichere Orientierung in der «geistigen Landkarte» hilft auch wieder zurückzufinden, wenn bei der Navigation etwas schief gelaufen ist und weiterhin beim Verstehen, was schief gelaufen ist. Durch das Kennenlernen der Tücken werden Kompetenzen für die effiziente Nutzung der Apps aufgebaut. Der Aufbau dieser «geistigen Landkarte» (auch in unbekannter Umgebung) gehört klassischerweise zu einer O&M-Schulung.

Die praktische Anwendung der Apps, einzeln oder in Kombination, das Aufzeigen von möglichen Fehlerquellen und der Aufbau von Strategien im Umgang damit, kamen in den letzten Jahren dazu. Betrachtet man die Orientierung, kurz das «O in O&M» insgesamt, besteht in verschiedenen Bereichen der Bedarf einer Weiterentwicklung unserer Ansätze und Methoden. Angeführt seien an dieser Stelle die Bereiche: detaillierte Abklärung der persönlichen Orientierungsstrategien zu Beginn der Schulung, Wissen um und Bebildern von möglichen Anwendungssituationen des Arbeitens mit Auffanglinien im Alltag, individuelle Zusammenstellung und Erarbeitung verschiedener Orientierungssysteme und am Ende das Schaffen von Unterrichtssituationen zum Erleben ihres gelungenen Zusammenspiels. Darüber hinaus stellt sich die Frage, mit welchen Hilfsmitteln (Smartphone, Orientierungsgürtel usw.) wir arbeiten, wenn es um die Kompass- und/oder Navigationsfunktion geht.

Angebote für Menschen mit einem noch relativ guten Sehvermögen

Mobil zu sein, ist ein Grundbedürfnis. Jeder Mensch möchte selbst entscheiden können, wann und wohin er geht. Mit einer Sehbehinderung geht eigentlich noch alles. Aber unterwegs zu sein kostet dann doch Anstrengung und bedeutet Stress – bei Blendung, bei Strassenüberquerungen, wenn ab und zu Fahrzeuge oder Ampellichter nicht mehr sicher zu erkennen sind, bei wechselnden Lichtverhältnissen, in der Dunkelheit, in Umgebungen mit vielen Menschen oder Hindernissen oder in unbekannter Umgebung. Da diese Situationen nicht permanent auftreten, antworten viele Betroffene auf die Frage, ob sie sich unsicher fühlen, mit «Nein – das geht noch.» Wenn wir in die letzten drei Worte nicht tiefer einsteigen, im Gespräch oder durch praktische Abklärungen, werden diese Menschen noch viele Jahre so weiter leben. Vielleicht, wenn sie sich nicht schämen, nehmen sie einen Signalstock mit. Aber auch dann bleibt es dabei: Der Schrittbereich muss visuell kontrolliert werden und gleichzeitig muss man sich orientieren und auf entgegenkommende Menschen achten, unverhoffte Abwärtsstufen bleiben ungesehen und damit eine Gefahr. Bei ungünstigen Lichtverhältnissen wird es noch schwieriger. Nach und nach beginnen Betroffene Wege zu meiden, den Tag so zu organisieren, dass sie doch erst etwas einkaufen, wenn der Partner da ist, oder eine Veranstaltung frühzeitig verlassen, weil ein anderer seinen Heimweg startet. In «es geht noch» steckt bereits dieser schleichende, oft unbewusste Prozess und damit der Verlust von Unabhängigkeit.

Was brauchen betroffene Menschen und was können wir anbieten?

Von Fachpersonen braucht es viel Sensibilität im Gespräch und in der Abklärung. Weiter die Fähigkeit, alle klassischen Inhalte, Techniken, Strategien auseinanderzunehmen und sich zu fragen, welche Teile einer komplexen Handlung wie Strassenüberquerung oder Treppentechnik kann eine Person noch visuell und welcher Teil muss ggf. taktil oder nach Gehör gemacht werden. Hinzu kommt, all dies für die verschiedenen Lichtverhältnisse gesondert zu tun. Durch diese «Feinarbeit » wird sich die betroffene Person ihres eigenen Sehvermögens selbst viel bewusster und entwickelt die Kompetenz, den Langstock später wirklich situativ und situationsadäquat anzuwenden. Wenn der Langstock den Schrittbereich klärt, sind die Augen wieder frei für die Orientierung, die Wahrnehmung von Hindernissen und Passanten – oder «um sich einfach mal wieder umschauen zu können». Um diesen Effekt zu erleben, braucht es viele gezielte Übungen im Unterricht. Doch nicht alle Menschen sind bereit, sich darauf einzulassen: Der Langstock wird leider oft genug einfach als Blindenstock bezeichnet, mit der fatalen Folge, dass damit nur Blindheit in Verbindung gebracht wird – für einen Augenpatienten oft ein Schreckensbild. Der Gedanke, sich mit diesem Stock zu bewegen, wo doch alle noch nichts von der eigenen Sehbehinderung wissen, ist für viele, die doch noch sehen können, so unmöglich, dass eine Schulung in O&M erst mal undenkbar ist. Lösungsansätze sind: Durchführen der Schulung gezielt in einer Umgebung, wo die Betroffenen nicht erkannt werden, wo ein «freies» Ausprobieren und Erleben der Techniken und Strategien möglich ist. Ferner ist es für viele Klienten wichtig, in lockerer Atmosphäre Gleichbetroffene zu treffen, sich auszutauschen und gegenseitig zu stärken. Eine mögliche Organisationsform, die vielen Augenpatienten hilft, frühzeitig zu einer O&M Schulung JA zu sagen, sind Intensivlehrgänge.