Musiktherapie mit mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen

Musiktherapie gilt auch als „nonverbale Psychotherapie“. Wo Sprache aus Alters- oder Krankheitsgründen nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, kann Musik beitragen, Türen zu öffnen, Erfahrungen zu verarbeiten und Veränderungen anzustossen.

von Ann-Katrin Gässlein

Ein mehrfachbehinderter Junge sitzt und zupft auf einer Gitarre. Bild: Ann-Katrin Gässlein

Je nach Situation steht Aktivierung oder Beruhigung der Klientinnen und Klienten im Vordergrund.

Einmal pro Woche besucht Musiktherapeut David Moser Jan. Jan ist 29 Jahre alt, hat mehrfache Behinderung mit frühkindlichem Autismus und ist blind. Während seiner Schulzeit gewöhnte er sich an, sich in so genannten „unstrukturierten Momenten“ gegen sich selbst, andere oder das Mobiliar zu schlagen. Seine Betreuung wurde sehr aufwändig. Die erste Phase der Musiktherapie mit Jan gestaltete David Moser, der als Musiktherapeut auch an der Blindenschule Zollikofen und am Inselspital Bern arbeitet, zusammen mit einem Sozialpädagogen. In einer zweiten Phase, als Moser sichergehen konnte, dass Jan ihn erkannte und sich an den Raum gewöhnt hatte, wurden Begrüssungs- und Abschlusslieder als Rituale eingeführt. Anschliessend zog sich der Sozialpädagoge schrittweise zurück. Mittlerweile führt Moser die Musiktherapie mit Jan alleine durch. Oft singt oder spielt er ihm etwas vor; Jan summt mit oder schlägt im Rhythmus auf die Klanghölzer.

Musik begleitet schon vor der Geburt

Körperliche und elementar musikalische Eindrücke gehören zu den Urerfahrungen des Menschen. Puls- und Atemrhythmus, Körpergeräusche, Stimmklang und -melodie der Mutter und ihre Bewegungen prägen das Kind bereits vor der Geburt. In der ersten Lebensphase ist der Erfahrungsraum von Kindern von körperlichen und musikalischen Wahrnehmungen geprägt. Für viele Menschen ist Musik ihr ganzes Leben lang ein bevorzugtes Mittel zum Ausdruck ihrer Erfahrungen und Emotionen. Für Menschen mit Mehrfachbehinderung ist es manchmal das einzige Mittel.

Viele Klienten und Klientinnen von David Moser haben ein Lieblingslied. Ein Lieblingslied von Jan ist „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Für David Moser ist der Text und die Atmosphäre des Liedes Programm: „Es will ausdrücken, dass unsere Zuneigung zu ihm unverbrüchlich ist, dass er in seiner ganzen Person akzeptiert ist, auch wenn es zu oft heftigen körperlichen Reaktionen kommt.“

Begegnungen ermöglichen

Musik hat kommunikativen Charakter. Sie ermöglicht Rede und Antwort, Miteinanderverschmelzen und Abgrenzung. Gleichzeitig bietet sie einen Raum für den Ausdruck von Trauer, Schmerz, Angst oder Wut. Auch Ressourcen wie das Erleben von Geborgenheit, Lust und Freude am Spiel können werden aktiviert. Für David Moser bedeutet das: „Ich belehre die Kinder nicht, sondern ermögliche Begegnungen.“ Dafür trifft Moser entsprechende Voraussetzungen. In dem Raum, in dem die Therapie stattfindet, darf man laut sein, Trommeln, schreien, niemand läuft unvermittelt hinein. Moser nimmt die Kinder und Jugendliche aus ihren Rollstühlen heraus, schaukelt mit ihnen und begleitet sie beim Hüpfen. Sie dürfen auf dem Boden trampeln, um die Vibration zu spüren. Fast alles ist erlaubt.

David Moser in seinem Musikraum in der Blindenschule.

David Moser ist Musiktherapeut mit Leib und Seele. Bild: Ann-Katrin Gässlein

Die Musiktherapie unterscheidet grob zwei Ausprägungen. In der aktiven Musiktherapie macht der Klient oder die Klientin selbst Musik, bringt Instrumente zum Tönen und Klingen, improvisiert, tanzt dabei oder musiziert gemeinsam mit dem Therapeuten. Zu David Mosers Instrumentarium gehören u.a. Xylophon, Tempelblock, Becken, Schlagzeug, Gitarre, Djembe, Pauke, Schlitztrommel, Steel Drum, Leier, Ocean Drum, Flöte – und ein Trampolin mit Matte. In der rezeptiven Musiktherapie singt der Therapeut etwas vor, spielt auf einem Instrument oder setzt eine CD ein. Je nach Situation steht die Aktivierung oder die Beruhigung und Entspannung des Klienten im Vordergrund.

Zwischen Aktivierung und Entspannung

Bei mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen ist Affektregulierung ein wichtiges Thema. Viele sind über lange Zeit hinweg hypoton und zeigen wenig Reaktionen oder verfallen ins andere Extrem, haben Angstzustände oder äussern heftige Aggressionen. Musiktherapie hat auch das Ziel, den „mittleren Bereich“ zu stärken und den Spielraum im Affekterleben zu erweitern. Musiktherapie zeigt hier messbare Wirkungen, wie Video- und Verhaltensanalysen zeigen.

In zwischenmenschlichen Beziehungen sowie in der verbalen und nonverbalen Kommunikation sind Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung stark beeinträchtigt; es steht ihnen ein deutlich beschränktes Repertoire an Aktivitäten zur Verfügung. Sprache und Interesse entwickeln sich aber durch das Setzen von Reizen! So geht es in der Musiktherapie auch darum, das richtige Mass zu finden. Moser lässt sich vieles einfallen, um seine Klienten und Klientinnen taktil und haptisch zu fördern und zu stimulieren.

Finn, ein anderer sehbehinderter Junge mit tiefgreifender Entwicklungsstörung, liebt das Lied „Die Affen rasen durch den Wald.“ Er kommuniziert vor allem über die Mimik. In der Musiktherapie ist er sehr fordernd und wirft gerne Gegenstände durch den Raum. Moser gibt ihm nach, indem er den Reflex zulässt, die Wurfgegenstände aber stoppt und in das Lied „Dri und Druus“ einbettet. Finn wird damit ruhiger, er kann etwas machen, was ihm Freude macht, aber niemanden verletzt.

Am wichtigsten für David Moser ist, seine Therapie auf die Tagesverfassung seiner Klientinnen auszurichten. Eine sehr hohe Sensibilität ist sowieso gefragt. Denn Musiktherapie hat auch Grenzen. „Bei Personen, die psychotisch sind, kann Musik Überreizung auslösen oder Erfahrungen aktivieren, die womöglich traumatisch sind.“ Sehr wichtig sind dafür Rückmeldungen von Angehörigen oder anderen Fachpersonen zu bisherigen Musikerfahrungen der Klienten und Klientinnen. Die Rückmeldungen sind auch gefragt, um den Nutzen der Musiktherapie zu überprüfen, die immer eine Steigerung der Lebensqualität für die Betroffenen zum Ziel hat. Für Moser ist die schönste Bestätigung seiner Arbeit, wenn er von Kolleginnen und Kollegen erfährt, dass die Kinder nach der Musiktherapie entspannt und zufrieden sind, dass ihre Sprachäusserungen zugenommen haben oder wenn sie besser ausdrücken können, wenn ihnen etwas gefällt oder gar nicht passt.