Hilfsmittel erleichtern Menschen mit Sehbehinderung den Alltag. Doch
eigentlich sollten Gegenstände so konzipiert sein, dass sie von möglichst vielen Menschen ohne zusätzliche Hilfsmittel benutzt werden können. Ein gutes Beispiel für Universal Design sind die iOS-Produkte von Apple.

von Michel Bossart, externer Autor, künzlerbachmann Verlag AG

Das iPhone ist ein Paradebeispiel für Universal Design.
Bild: Apfelschule
Das iPhone ist ein Paradebeispiel für Universal Design. Bild: Apfelschule

«Universal Design ist ein wichtiger Baustein für eine inklusivere Gesellschaft. Darunter versteht man die Gestaltung von Produkten, so dass sie möglichst von allen Menschen ohne Anpassung genutzt werden können», sagt Fabian Winter. Er ist Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH) und leitet den Studienschwerpunkt «Sehen». Mit «Produkten» meint Winter nicht nur
Alltagsgegenstände, sondern auch Dienstleistungen sowie digitale Angebote. Solche Produkte, die für so viele Menschen wie möglich nutzbar sind, entsprechen dem «Universellen Design». Ein Begriff, der ursprünglich aus der Architektur stammt und auf Ronald L. Mace (gest. 1996) zurückzuführen ist, der selbst zeitlebens körperlich beeinträchtigt war. Mace unterschied sieben, nicht immer trennscharfe, Prinzipien für universelles Design:

  1. Breite Nutzbarkeit
  2. Flexibilität in der Benutzung
  3. Einfache und intuitive Benutzung
  4. Sensorisch wahrnehmbare Informationen
  5. Fehlertoleranz
  6. Geringer körperlicher Aufwand
  7. Grösse und Platz für Zugang und Benutzung

«Auch wenn noch grosser Nachholbedarf besteht, lassen sich die Prinzipien inzwischen bereits in Teilen bei vielen Produkten im Alltag beobachten» sagt Winter. Als Beispiel nennt er Gebäude, die barrierefrei angelegt sind, in dem beispielsweise Schwellen vermieden werden, Leitsysteme vorhanden sind, Türschilder mit Braille beschriftet sind oder ein Beleuchtungs-, Farb- und Kontrastkonzept Anwendung findet. Dadurch werden die Räume für eine breitere Personengruppe nutzbar. Flexible Zugänge liessen sich wiederum gut bei einigen elektronischen Produkten beobachten, die alternativ über Gesten-, oder Sprachsteuerung bedient werden können und Schnittstellen für Zugangs-Technologien bieten, zum Beispiel zu Screenreadern und Braillezeilen. Universal Design visiert ein Umdenken an: «Durch zielgerichtete Umwelt- und Produktgestaltung lassen sich Barrieren für die Teilhabe abbauen», sagt Winter. Dazu gibt er zu bedenken: «Bei einer konsequenten Umsetzung wird der Bedarf an spezifischen Hilfsmitteln sinken. Dort wo sich das Konzept jedoch nicht in Gänze umsetzen lässt, braucht es auch in Zukunft spezifische Hilfsmittel.»

Lange Entwicklungszeit

Jemand, der die Entwicklung spezifischer Hilfsmittel gut kennt, ist Stephan Mörker. Er leitet beim SZBLIND die Fachstelle für Hilfsmittel. «Damit ein Gegenstand für sehbehinderte Menschen brauchbar ist, muss er mindestens zwei Sinne abdecken», erklärt er. Die von SZBLIND mitentwickelte Acustica-Uhr ist dafür ein gutes Beispiel: Das Display ist kontrastreich und die Uhr verfügt über eine Sprachausgabe, die sich langsamer, schneller, lauter und leiser einstellen lässt oder im Stummmodus vibriert: zum Beispiel immer zur vollen Stunde, alle zehn Minuten oder jede Minute. «Diese Uhr eignet sich sowohl für Blinde wie auch für Hörsehbehinderte», sagt Mörker. Und sie ist ein Resultat eines im Vorfeld sorgfältig abgeklärten Bedürfnisses. Mörker erklärt: «Aufgrund von schweiz- und manchmal weltweiten Umfragen erstellen wir für alle zu entwickelnden Gegenstände vorgängig eine Bedürfnisanalyse und definieren dann ein Pflichtenheft.» Danach kontaktiere man die entsprechenden Industriepartner und einige sich gemeinsam mit ihnen auf die Must-haves und die Nice-to-haves.
Bis ein Gegenstand reif für den Markt ist, vergehen gut und gerne zwei Jahre. Zurzeit tüftle man an einem Rollator für Menschen mit Sehbehinderung. Dabei werden verschiedene Ansätze genau geprüft: Sollen zum Beispiel Sensoren vor Hindernissen warnen? «Das hat Vor- und Nachteile», sagt Mörker. «Sensoren müssen gereinigt und der Akku aufgeladen werden. Manchmal erweisen sich darum analoge Lösungen als praktikabler und einfacher in der Anwendung.» Dabei gilt folgender Grundsatz: Je einfacher ein Gerät ist, desto erfolgsversprechender ist es. «Das Problem ist oft, dass die Fachpersonen in der Entwicklung solcher Hilfsmittel «viel zu fit» sind, wie Mörker sagt. «Wir denken oft zu wenig weit und weil wir mit unseren intakten Sinnen oft improvisieren und kombinieren können, schaffen wir ein viel zu kompliziertes Produkt. Ein einfach funktionierendes Gerät ist in der Entwicklung extrem komplex!»

Industrie profitiert von Universal Design

Dem kann Winter nur zustimmen: «Das Prinzip der einfachen und intuitiven Bedienung von Produkten ist in der Entwicklung sehr anspruchsvoll. Bei Geräten mit einer einzigen Funktion lässt sich das noch besser umsetzen als bei Computern, Smartphones und Tablets, die häufig sehr viele Funktionen erfüllen.» Aber auch in diesen Bereichen gebe es Verbesserungen. «Die Firma Apple hat sehr früh erkannt, dass sich mit Universal Design der Kundenkreis erweitern lässt und Profite erzielt werden können», meint Winter.
Die Kundinnen und Kunden von Apple schätzen die leichte Bedienbarkeit und hohe Fehlertoleranz der Geräte. Das animiert zum spielerischen Ausprobieren der Geräte, ohne dass dafür die Lektüre einer Anleitung notwendig ist. Speziell für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit kann das Erscheinungsbild und das Bedienkonzept der Geräte an die individuellen Präferenzen angepasst werden. Die spezifischen Bedienungshilfen wie Zoomfunktionen oder der Screenreader «Voiceover» sind integraler Teil von Apple-Produkten und bereits beim ersten Start vorinstalliert. Winter fügt an: «Das Beispiel verdeutlicht, dass die Grenzen zwischen Hilfsmittel und Mainstreamprodukt bei der Umsetzung von Universal Design fliessend verlaufen». In der konsequenten Orientierung an den Prinzipien des Universal Designs sieht Winter einen Hauptgrund, warum iOS-Geräte unter Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit weit verbreitet sind. Der Fortschritt bestehe darin, dass beim Produktedesign stets alle Nutzenden berücksichtigt werden und flexible Zugänge gewährleistet werden. «Das war nicht immer so und ist heute leider auch noch nicht Standard bei der Produktentwicklung. Das Problem ist, dass bei der Gestaltung häufig intuitiv von einer Norm nichtbeeinträchtigter Nutzender ausgegangen wird. Für Menschen mit einer Behinderung entstehen so schnell Barrieren, die wiederum zu Ausgrenzung führen können», mahnt Winter. Bei der Umsetzung von Universal Design sieht er deshalb noch viel Entwicklungsbedarf.

Bildungsbereich mit Nachholbedarf

Positiv sei allerdings, dass viele neue Haushaltsgeräte heute einfacher zu bedienen sind und flexible Zugänge bieten, zum Beispiel über eine Sprachsteuerung. «Das war noch vor wenigen Jahren überhaupt nicht der Fall», stellt er fest und ärgert sich gleichzeitig darüber, dass in anderen Bereichen Universal Design noch nicht so gut angekommen ist: Im Bildungsbereich im Allgemeinen und bei vielen Schulbuch- sowie Lehrmittelverlagen im Speziellen. «Viele Bildungsinstitutionen investieren viel Zeit und Geld, um unzugängliches Unterrichtsmaterial in ein barrierefreies Format für Lernende mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit zu übertragen. Dabei könnten Schulbücher im Sinne eines Universal Designs doch schon von Anfang an so angelegt sein, damit sie von allen Lernenden benutzt werden können!» Gutes Universal Design bedeutet die Umsetzung von Barrierefreiheit auch im digitalen Bereich, beispielsweise durch eine voreingestellte Lesereihenfolge, Alternativtexte und Kennzeichnung von dekorativen Elementen in Dokumenten. «Gerade die Schulbuchverlage sollten sich damit intensiv auseinandersetzen und stärker in die Pflicht genommen werden», sagt Winter. Für die Zukunft wünscht er sich deshalb Fortschritte und eine weitere Verbreitung von Universal Design.

Analog versus digital

Hilfsmittelfachstellenleiter Mörker fügt lachend an: «Wäre Universal Design überall konsequent umgesetzt, wäre ich wohl arbeitslos.» Zwar stimmt er mit Winter überein, dass die Apple-Produkte für sehbehinderte Menschen viel bieten, findet aber gleichzeitig, dass diese auch relativ kompliziert sind, weil sie einfach viel zu viel können. Er sagt: «In 20 Jahren kommt eine Generation ins Alter, die mit Apps und Internet aufgewachsen ist und damit gut umgehen kann. Aber heute ist das nicht so: Viele Ältere sagen mir, dass sie doch bloss die Uhrzeit wissen und nicht noch gleichzeitig zehn andere Sachen machen wollen.» Der Trend gehe zwar eindeutig Richtung Digitalisierung, aber noch seien analoge Produkte vor allem bei älteren Menschen mit Sehbeeinträchtigung höher im Kurs.
«Um Stephans Job mache ich mir beim Thema Universal Design tatsächlich keine Sorgen», fügt Winter an. «Im Produktdesign fehlt es ja gerade an behindertenspezifischer Expertise. Wenn sich Universal Design stärker durchsetzt, kommt da viel Arbeit auf die Abteilung Hilfsmittel zu».
«universell designte» Gegenstände vereinfachen das Leben vieler Menschen mit einer Beeinträchtigung. Das Konzept wird bislang aber nur in Teilen umgesetzt. Für einen frühen Einbezug der Bedürfnisse von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu sensibilisieren ist deshalb wichtige Aufgabe des Sehbehindertenwesens. Ganz aus der Welt schaffen lassen sich aber die analogen Hilfsmittel – ob analog oder digital – wohl noch lange nicht.