Braille-Tipp

Alba de Céspedes: Das verbotene Notizbuch

1950 ersteht Valeria in Rom ein Notizbuch, als sie für ihren Mann Zigaretten kaufen geht. «Das ist verboten», sagt der Verkäufer, denn am Sonntag dürfe nur Tabak verkauft werden. Heimlich gibt er ihr das Heft doch. Und genauso heimlich bleibt das Tagebuch der 43-Jährigen. Schon die Unterbringung fördert einen Missstand zutage; Valeria stellt fest, dass in der Wohnung, die sie mit Ehemann und Kindern bewohnt, kein Platz nur ihr allein gehört. Als Nächstes muss sie erkennen, dass sie auch keine Zeit für sich hat. Sie muss ihre Familie anschwindeln, um allein sein und schreiben zu können. Valerias ruhiges Mittelstandsleben verändert sich mit dem Tagebuch dramatisch. Es ereignet sich nicht viel, doch gehen Erschütterungen durch ihre Existenz. Valeria stellt fest, dass die Dinge ein neues Gewicht erhalten, seit sie sie notiert. Was bisher schwelte, kommt nun ans Licht. Valeria opfert sich als Hausfrau und Mutter zwar auf, doch sie lässt ihre Familie auch bitter dafür bezahlen. Zwischen den Deckeln dieses Notizbuches brodelt es.

de Céspedes, Alba: Das verbotene Notizbuch
Berlin: Insel Verlag, 2021. 4 Bd., 483 S.
Ausleihe: BG 36807


Hörbuch-Tipp

Amélie Nothomb: Die Passion

Jesus soll gekreuzigt werden. Warum? Die Menschen beschweren sich über seine Wunder. Warum hat er das Wasser nicht schon zu Beginn des Festes in Wein verwandelt, sondern hat gewartet, bis der schlechte Wein ausging? Warum hat er das kranke Kind nicht gleich in ein angenehmes verwandelt, als er es geheilt hat, anstatt in dieses schreiende Balg? Was anmutet wie eine Szene aus Monty Python’s, ist die neueste Romanidee der belgischen Erfolgsautorin Amélie Nothomb. Sie lässt Jesus nach seiner Verurteilung zu Wort kommen. Und zwar direkt, ungefiltert, menschlich. So erfährt der verwunderte Leser, dass nach dem ersten Wunder überall bereits Dinge für ihn bereitstehen, beispielsweise ein Aussätziger zur Heilung. «Und das Wunder war keine Gnade mehr, sondern eine Pflicht», berichtet Jesus betrübt aus seiner Zelle, in der er eine letzte Nacht vor seiner Hinrichtung zubringt. Er hat Angst davor, zu sterben. Die Kreuzigung wird ziemlich plastisch beschrieben und ist schwer zu ertragen – vor allem, nachdem Jesus in den vorangegangenen Kapiteln so zugänglich und menschlich geworden ist. Am Kreuz hadert selbst Gottes Sohn schliesslich mit Gott. Was nicht heisst, dass er Gott nicht liebt. Aber er kritisiert, dass Gott keinen Körper hat und deshalb gewisse Dinge einfach nicht verstehen kann, an oberster Stelle die Liebe, den Durst und das Sterben – alle drei setzen Körperlichkeit, setzen «Verkörperung» voraus. Kenner von Amélie Nothomb erkennen da den roten Faden durch ihr Werk. Zeitlebens ist der Körper ein wichtiges Thema für die Autorin, die selbst mit Essstörungen kämpfte. Doch Nothombs Überlegungen zur Körperlichkeit und deren Konsequenzen sind genauso verblüffend und einleuchtend wie die anderen neuen Sichtweisen auf das vermeintlich wohlbekannte Leben Jesu‘. Nothomb kennt ihr Material, stammt sie doch aus einer schwer katholischen Familie. Ein starkes Buch – auch, oder ganz besonders für Nicht-Christen.

Nothomb, Amélie: Die Passion
Zürich: Diogenes Verlag, 2020.
Ausleihe: DS 53454


Information
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