Homeoffice war pandemiebedingt in den letzten beiden Jahren ein aktuelles Thema.  Als grundsätzliche Variante der Berufsintegration wurde Homeoffice bisher allerdings nicht umfassend diskutiert. Ein Bundesgerichtsurteil, das die Arbeitsfähigkeit einer Frau mit Behinderung um 20% erhöhte, regt nun Diskussionen an über die „Auswirkungen eines erzwungenen Homeoffice auf Arbeitnehmende mit Sehbehinderung“.

Von Stephan Hüsler, Geschäftsleiter Retina Suisse und Stefan Spring, Verantwortlicher Forschung SZBLIND

Inclusion Handicap hat in ihrem Newsletter „Handicap und Recht“ (Ausgabe 1/2021) über ein Bundesgerichtsurteil berichtet, worin das Gericht die Arbeitsfähigkeit einer behinderten Person dank Homeoffice um 20 % erhöhte. Dies hat dazu geführt, dass der Rentenanspruch verloren ging. Der Fall betraf zwar eine Frau mit Gehbehinderung, er hat uns aber doch zum Nachdenken gebracht. Das teilweise oder vollständige Arbeiten von zuhause kann im Einzelfall und auf Grund eines freien Entscheides auch praktische Vorteile haben. Gegen eine durch die Versicherung vorgenommene Neueinschätzung der Arbeitsfähigkeit in einem theoretischen Arbeitsverhältnis müssen wir aber kritisch Position beziehen

Zehn Argumente

Unterstützt durch zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus dem Sehbehindertenwesen haben wir ein Argumentarium“ Auswirkungen eines erzwungenen Homeoffice auf Arbeitnehmende mit Sehbehinderung“ entworfen. Es enthält bisher zehn Überlegungen zu den folgenden Aspekten:

Zu diesen zehn Punkten versuchen wir im genannten „Argumentarium“ konkrete und einschneidende Nebeneffekte des Homeoffice darzustellen. Im Folgenden geben wir Einblick in drei der zehn Aspekte und möchten Sie einladen, die Diskussion um die Folgen erzwungenen Homeoffices weiterzuführen.  

Ausfall der Mobilitätskompetenz

Die Übung in der Mobilität im öffentlichen Raum, in Verkehrssituationen und bei der Nutzung von Verkehrsmitteln kann durch alleiniges Arbeiten im Homeoffice sehr schnell verloren gehen. Die gewohnten, aus beruflichen Gründen absolvierten Wegstrecken können sich baulich oder von der Verkehrssituation her verändern. Sicher ist der Arbeitsweg nicht der einzige Weg, den man geht, aber oft während der Woche der wichtigste und allgemein herausfordernd (ÖV, Menschengruppen, Fahrplanbezogenheit usw.). Ihn nicht mehr gehen zu müssen, kann attraktiv erscheinen (Ermüdung). Ihn fremdbestimmt aufgeben zu müssen ist aber ein Eingriff in die allgemeine Mobilitätskompetenz. Fällt die Mobilitätskompetenz ab, wird der Aussenbereich zunehmend fremd und bedrohlich. Die Menschen können dazu neigen, vermehrt zuhause zu bleiben und sich selbst zu isolieren.

Informelle Hilfen im Arbeitsprozess

Homeoffice kann auch direkte Auswirkungen auf die Arbeitserbringung haben. Jeder Arbeitsplatz ist ein informeller Tauschmarkt, Behinderung hin oder her. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Sehbehinderung sind in einem Team Geber und Empfänger von informellen Hilfen, egal ob die Hilfe mit der Behinderung zu tun hat oder auch nicht. Es ist aber eine Tatsache, dass Mitarbeitende mit Sehbehinderung in Mobilitätsfragen, technischen Belangen oder in alltäglichen Handreichungen mehr Empfänger sind, als sie Geber sein können. Im Homeoffice entfallen solche Hilfen, was sich auf die Dauer auf vielen Ebenen negativ auswirken kann. Informelle Hilfe muss durch formelle, u.U. als bezahlte Assistenz, ersetzt werden. Da bleibt der ScreenReader hängen, eine Eingabeaufforderung verlangt eine ID-Nummer oder ein Kennwort, das nicht vorgelesen wird, etc. Nur sehende Hilfe kann hier unterstützen. Im Büro können bestimmte Formen von Assistenz durch die Arbeitskolleginnen oder Mitarbeitenden gewährleistet werden. Auch im Homeoffice muss jemand anwesend sein, der im Notfall unterstützen kann (Dienstleistungen Dritter anstelle eines Hilfsmittels). Darum sollte Homeoffice nicht angeordnet werden.

Auswirkungen auf die Wahrnehmung von „Sehbehinderung“

Wenn die „Trägerinnen und Träger von Sehbeeinträchtigungen“ auf die eigenen vier Wände eingeschränkt werden, „verschwinden“ sie sozusagen aus dem öffentlichen Raum. Dies kann zu einer Desensibilisierung führen, also exakt das Gegenteil von dem, was wir allgemein versuchen und als notwendig erachten:  Eine der effektivsten Arten, auf die Lebensumstände von Menschen mit Sehbehinderungen sensibilisiert zu werden, ist die Beobachtung von blinden und sehbehinderten Menschen im Alltag.

Wahrnehmung sehbehinderter Mitarbeitenden durch die Chefetagen

Ein weiteres Beispiel aus dem Argumentarium betrifft die Wahrnehmung sehbehinderter Mitarbeitenden durch die Chefetagen der Betriebe. Studien haben gezeigt, dass Mitarbeitende mit Sehbehinderung oft eine überdurchschnittliche Leistung erbringen. Erfolgt diese Leistung fernab der Beobachtungsmöglichkeiten durch Arbeitskolleg/-innen und Vorgesetzte, wird nur noch das Arbeitsergebnis und nicht mehr die Leistung beobachtet. Der eventuell erbrachte Zusatz-Effort geht vergessen. Indem ihre sehbehinderten und blinden Mitarbeiter/-innen im Homeoffice sind, nehmen Vorgesetzte aber auch die technischen Anpassungen und die Einführung in die Arbeitsaufgaben als noch aufwändiger wahr. Sie verstehen beim Kontakt auf Distanz die Bedürfnisse noch weniger als allgemein schon: Die Bereitschaft zur Neuanstellung sehbehinderter oder blinder Menschen geht damit weiter zurück.

Unser momentanes Fazit

Homeoffice kann für Erwerbstätige in den dazu geeigneten Berufen Chancen bieten, so auch für Menschen mit Sehbehinderung. Homeoffice darf aber nicht auf Grund der Behinderung und wegen einer rechnerischen Annahme einer höheren Arbeitsfähigkeit auf dem (theoretischen) Arbeitsmarkt erzwungen werden. Die Entscheide müssen die Situation der Person und des Arbeitsplatzes berücksichtigen und dürfen aus gleichstellungs-, behinderungs- und integrationspolitischer Sicht nicht kontraproduktiv wirken.

Diskutieren sie mit

Wir haben unsere Argumente bereits mit vielen Menschen geteilt. Daraufhin erhielten wir Rückmeldungen wie diese, von einer im öffentlichen Dienst angestellten blinden Frau «Vielen herzlichen Dank für Eure Argumente. Ich kann sehr viel anfangen damit! Gerade heute war ich in einem MS Teams Meeting. Da poppten immer wieder Chat Notizen auf, die mir dann von JAWS vorgelesen wurden. Dadurch konnte ich das gesprochene Wort nicht mehr hören. Die Option war, dass ich das Vorlesen der Chat Notiz unterdrückte. Dadurch bekam ich die Hälfte der Konversation nicht mit. Morgen darf ich an einer Round Table Diskussion teilnehmen. Es wird erwartet, dass es Fragen im Q&A-Tool geben wird. Der Moderator wird die Fragen in den internen Chat stellen. Dort sollen die Panellisten sich „Ihre“ Frage heraussuchen und darauf antworten. Für mich wird es unmöglich sein. Das wird bedeuten, dass ich an der Diskussion nicht teilnehmen kann wie die anderen. Die technischen Hürden sind wirklich nicht zu vernachlässigen. In MS Teams konnte ich z.B. die Hand heben Funktion nicht finden. Ich schaffte es, mein Mikrofon ein und auszuschalten, mehr aber auch nicht.»

Diese Diskussion kann und soll weitergehen. Lesen Sie das vollständige, fünfseitige Argumentarium „Auswirkungen eines erzwungenen Homeoffice auf Arbeitnehmende mit Sehbehinderung“ auf www.szblind.ch/erzwungenes-homeoffice  oder auf www.retina.ch/aktuelles/ Gerne nehmen wir Anregungen der Leserinnen und Leser von tactuel entgegen (Mail an spring@szblind.ch) und bauen das Argumentarium weiter aus!