Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung können Strategien für eine erfolgreiche Alltagsbewältigung erlernen. Wie diese Strategien gelernt werden, ist zum Kern vieler Fachdiskussionen geworden. Wie man lernt, ist ein Teil von dem, was man lernt und für das kindliche Lernen ausschlaggebend.

Von Pamela Cory und Conny Sill-Hansen

Um zu verstehen, warum «wie man lernt, ein Teil ist von dem, was man lernt», müssen wir wissen

  • wie sehende Kleinkinder auf natürlichem Weg die Grundlagen für motorische Handlung anbahnen und
  • welche Bedeutung diese kindliche Lernphase für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Gestaltung eines lebenslangen Lernens hat.

Wie lernen sehende Kinder motorische Handlungen?

Die Aneignung elementarer motorischer Handlungen wird von Kleinkindern durch visuelle Wahrnehmung angeregt und gesteuert. Das Sehen hilft dem Kind dabei,sich und seine Umwelt zu entdecken. Durch Beobachtung anderer Menschen erfährt esso „ganz nebenbei“, welche Alltagsverrichtungen es gibt und wie sie durchgeführt werden können. Das Sehen regt das Kind an,sich zu bewegen. Dieseaktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ist für die motorische Entwicklung und Begriffsbildung des Kindes grundlegend. Kleinkinder, denen es gut geht, sind entdeckende Wesen.

Die Baby- und Kleinkindjahre sind die wichtigsten Lernjahre für das Kind. Sie bieten ihm ein Übungsfeld zum Experimentieren, zur Überwindung von Schwierigkeiten und zur Entwicklung von Strategien, die ihm helfen, Alltagsprobleme eigenständig zu lösen. Wie sich das Kind motorische Handlungen aneignet und somit seine Umwelt aus eigner Kraft erobert, ist für seine Persönlichkeitsentwicklung bestimmend. Ergreift das Kind selbst die Initiative, um auf Entdeckungsreisen zu gehen oder wartet es auf die Zustimmung eines Erwachsenen, und wird durch ständiges Eingreifen oder Anleiten durch die Bezugsperson gebremst?

DieserLernprozess beeinträchtigt sein ganzes späteres Leben. Durch eigene Handlungsplanung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und mit den Gegenständen in seiner nächsten Umgebung eignet sich das Kind Kompetenzen an, die ihm Selbstvertrauen schenken. Das, was das Kind selbst plant und tut, ist der Grundstein, worauf sein Selbstbild bzw. Eigenidentität aufgebaut wird. (Cory 16ff)

Die Bezugsperson soll dabei den Lernprozess aktiv begleiten, allerdings soll ihre Teilnahme durch Zurückhaltung und behutsame Achtsamkeit geprägt sein (Cory 18f). Statt die Führung in dem Lernprozess zu übernehmen, beobachtet sie das Geschehen, um sich spontan auf das Kind einzulassen und eine für das Kind geeignete Spielumgebung zu gestalten (Cory 21). Detaillierte Kenntnisse über Entwicklungsschritte bzw. der Zugang zu solchen Entwicklungsskalen (siehe Toni Linder, Transdisciplinary Play-Based Assessment) sind erforderlich, um eine genaue Einschätzung der Ressourcen des Kindes vorzunehmen und weitere geeignete spielerische Lernsituationen zu inszenieren. Diese müssen sich an den Interessen und dem Fähigkeitsstand des Kindes orientieren.

Lernen bei sehbeeinträchtigten Kindern

Der «automatische» Zugang zur sehenden Welt fehlt dem sehbeeinträchtigten Kind. Muss es dann nicht gezielt angeleitet werden, um sinnvolle Bewegungsmuster zu erlernen oder Informationen über seine nächste Umgebung zu sammeln? Wird es nicht dadurch gezwungenermassen passiv und hilflos?  Wenn dem so ist, wo bleibt dann die eigene Handlungsplanung? «Wird es die Kompetenzen aufbauen können, die ihm Selbstvertrauen in seine eigenen Handlungsfähigkeiten erlauben oder wird es sich als abwartendes und unbeteiligtes Wesen erleben?» (Cory 36)

Aber was ist, wenn die Bezugsperson ihren sehbeeinträchtigten Schützling mit anderen Augen betrachtet? Statt nur die fehlende visuelle Wahrnehmung zu sehen, könnte ihr Blickwinkel auf die vorhandene «andersartige» Wahrnehmung des Kindes gelenkt werden, um das Potenzial dieser Sinne leichter zu erkennen. Wenn die Bezugsperson dem Kind die nötige Zeit, Geduld, Vertrauen in seine Lernfähigkeit entgegen bringt, wenn sie eine Atmosphäre schafft, die Fehler erlaubt, und wenn sich diese Bedingungen auch noch an den Interessen und Ressourcen des Kindes orientieren, dann kann eine spannende, Neugier weckende Lernsituation für die spielerische Anbahnung der Voraussetzungen von motorischen Handlungen inszeniert werden. Sind diese Voraussetzungen vorhanden, kann das Kind sich mit seiner Umgebung aktiv auseinandersetzen und die Initiative ergreifen, um auftauchenden Herausforderungen aus eigener Kraft zu begegnen.

Sensorische-Integrations-Theorie

Die Qualität der erreichten Sensorischen Integration in einer Entwicklungsstufe schafft die Grundlage für die Entwicklung noch komplexeren Verhaltens. Bei einer Inszenierung eines spielerischen Lernangebots müssen die Handlungsplanung und Bewegungsqualität des Kindes berücksichtigt werden. Besonders zu betonen ist die Qualität der Reizaufnahmen, wie auch die Differenzierung des Tastsinns, der Tiefensensibilität und des Gleichgewichtssinns. Diese Körpersinne sind grundlegend für die Entwicklung der Körper- und Raumwahrnehmung, wie auch die sensomotorische Entwicklung.

In der Lernsituation werden dem Kind Materialien und Herausforderungen angeboten, die die basalen sensomotorischen Fähigkeiten unterstützen und stabilisieren. Das Kind soll anhand dieser Materialien und Tätigkeiten lernen, seine eigenen Bewegungen anzupassen und zu steuern. Es soll nach Möglichkeit selbständig handeln und Probleme mit dem Einsatz seines gesamten Körpers selbst lösen. Diese Lernsituationen sollen vom Kind als ein freudiges und «Sinn»-volles Ereignis erlebt werden. (Cory 41f)

Beispiel

Tom, 10 Jahre alt, arbeitet mit seinen Armen sehr eng am Oberkörper, so dass er in seinen Bewegungsmöglichkeiten gehemmt ist bzw. ihm aber Sicherheit gibt (Tiefensensibilität/ Druck).

Hier bedarf es der Vertrauensbildung und des Angebots von motivierenden Unterrichtssituationen, um sich in kleinen Varianten von den alten Bewegungsmustern lösen zu können und um aktiv neue motorische Erfahrungen zu machen.

Der Unterricht wurde durch einen ständigen Wechsel von grob- und feinmotorischen Tätigkeiten gekennzeichnet. Zwei Spiele, die Tom ohne explizite Aufforderung angeregt haben, seine Arme vom Oberkörper losgelöst zu bewegen, führte die Lehrerin als Spielpartnerin öfter mit ihm durch:

  • im Vierfüssler Stand (Gegenstände verschiedener Grösse und Gewichte werden auf dem Rücken transportiert) und
  • am breiten Tisch sitzend, (Gegenstände, die auf die betreffende Person zurollen – variiert durch verschiedene Geräusche, Grösse und Geschwindigkeiten-, werden mit einer Schüssel an der Tischkante aufgefangen).

Durch gleichberechtigte „Mitmach- oder Rollenspiele“, bei denen es um Spaß und nicht ums Gewinnen oder Verlieren ging, konnte sich die Lehrerin auf Toms Ebene begeben, ihn dort abholen und anregende Angebote schaffen. Tom konnte in Rollen schlüpfen und wurde experimentierfreudiger. Es wurde ihm angeboten, während der Ausführung von Tätigkeiten zu singen. Die Musik hat ihn motiviert und schien ihn zu befreien. Er wurde aktiver und konnte sich ohne Angst auf neue Situationen einlassen.

An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass der Weg das Ziel ist: Das Angebot passender Lernmethoden, die die Eigeninitiative des Gegenübers in den Mittelpunkt stellt, hilft (nicht nur) Menschen mit Seheinschränkungen, im (späteren) Leben besser zurechtzukommen.

Cory, P. (2020): Mit Sehbeeinträchtigung im Alltag klarkommen, Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten. Ernst Reinhardt Verlag , München

Linder, T.  u.a. (2008): Transdisciplinary Play-Based Assessment. (2. Aufl.) Paul H. Brookes Publishing Co., Baltimore, Maryland

Autorinnen:

Pamela Cory, Reha-Lehrerin (LPF), Lehrbeauftragte Univ. Hamburg und Päd. Hochschule Heidelberg

Conny Sill-Hansen, Reha-Lehrerin (O&M und LPF), IRIS e.V., Hamburg