Wie eine Sinnesbehinderung die Paarbeziehung beeinflusst und herausfordert, darüber wissen wir praktisch nichts. Auf Anregung des SZBLIND führen die Universität Zürich und die Fachhochschule Westschweiz deshalb ab Januar 2019 eine Studie zum Einfluss einer Seh- oder Hörsehbehinderung auf die Paarbeziehung (SELODY) durch. In SELODY wird die Partnerschaft als wichtiger Lebensbereich, der von einer Seh- oder Hörsehbehinderung mitbetroffen ist, ins Zentrum gerückt. Das Ziel ist es, eine Grundlage zu schaffen, um offen und wissenschaftlich fundiert über diese Thematik zu sprechen. tactuel sprach mit der Studienleiterin Dr. Christina Breitenstein über die wissenschaftlichen Grundlagen der Studie und die mögliche Anwendung der Ergebnisse in der Praxis.

Von Nina Hug

Das Foto zeigt eine Frau und einen Mann. Auf dem Schoss der blinden Frau sitzt ein kleiner Junge und spielt mit einem Auto. Die Frau hält einen weissen Stock in der Hand und trägt eine Sonnenbrille.

Bild: Unitas

Frau Breitenstein, aus der Forschung zu Paarbeziehungen weiss man, dass eine funktionierende Partnerschaft eine wichtige Ressource der Stressbewältigung darstellt. Können Sie die zwei Konzepte erläutern, auf denen die Studie fusst? 

Zum einen basiert die Studie auf Erkenntnissen aus der Stressforschung: In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass Paare, die gemeinsam Alltags-Stress bewältigen (sogenanntes dyadisches Coping zeigen), sich näher sind, dass sie zufriedener sind und dass deren Partnerschaft langlebiger ist. Zudem hat sich gezeigt, dass Menschen, die in einer funktionierenden, zufriedenstellenden Partnerschaft leben, weniger von Stressfolgen betroffen sind, als Menschen, die ohne Partner leben.

Das Konzept der We-Disease geht einen Schritt weiter und fragt, ob diese Erkenntnisse auch zutreffen, wenn es sich um Stress auf Grund einer schweren Erkrankung handelt. Auch hier hat sich gezeigt: Wenn man gemeinsam als Paar mit der Krankheit umgehen kann und sie nicht als das Problem des betroffenen Partners allein betrachtet wird, dann haben beide Partner eine höhere Lebenszufriedenheit trotz der Krankheit. Handelt es sich zudem um Krankheiten bei denen eine Heilung oder zumindest eine Verbesserung der Befindlichkeit möglich ist, kann sich die Partnerschaft sogar positiv auf die Krankheit auswirken.

Welche Einsichten erwarten Sie, wenn Sie das Konzept der We-Disease auf den Kontext von Sinnesbehinderungen anwenden?

Die meisten Betroffenen sind nicht von heute auf morgen sehbehindert oder blind. Auch bei Hörsehbehinderungen entwickeln sich die Verluste, aber auch die Fähigkeiten der Kompensation, nach und nach. In vielen Fällen tritt die Verschlechterung des Seh- und oder Hörvermögens schrittweise und schleichend auf. Auch sind die meisten Krankheiten, die zu einem Sehverlust führen nicht therapier- oder heilbar. Das unterscheidet diese Krankheiten von z. B. Krebserkrankungen oder Diabetes, für die das Konzept der We-Disease schon angewendet wurde.

Auch haben Menschen mit einer Sinnesbehinderung durchaus viele Ressourcen, die sie in der Partnerschaft einbringen können und die für die Partnerschaft wichtig sind. In einer funktionierenden Partnerschaft liegt der Fokus nicht auf der Behinderung, sondern darauf, was ein jeder an Anteilen in die Partnerschaft einbringen kann. Gerade in der Phase der Anpassung an veränderte Gegebenheiten interessiert uns, wie das Gleichgewicht der Ressourcen in der Partnerschaft aufrechterhalten werden kann.

Hinzukommt, dass eine Sinnesbehinderung die Kommunikation in der Partnerschaft stark beeinflusst. Nonverbale Kommunikationselemente können nicht mehr detektiert werden. Wenn alles über die Stimme funktionieren muss, eröffnet sich ein Bereich von potentiellen Missverständnissen. Bei einem Hörverlust dann umso mehr.

Wie könnten die Erkenntnisse für Beratung und Begleitung von Sehbehinderten und Hörsehbehinderten Menschen relevant werden?

Ein konkretes Beispiel aus Braunschweig in Deutschland zum Thema Brustkrebs: Hier wurde auf Grund einer Studie ein Partnerschafts-Programm zusammengestellt, das Paare in Anspruch nehmen können. Paare lernen darin wie sie ihre Partnerschaft tragfähig machen für die Bewältigung der Krankheit.

Aber es geht auch um kleinere psychoedukative Elemente, nämlich darum, sich bewusst zu machen, worin die Herausforderungen für die Beziehung liegen. Sich frühzeitig bewusst zu machen, dass beide Partner in der Beziehung Ressource für den anderen sein können und müssen. Das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Partnerschaft von der Sinnesbehinderung mit betroffen ist. Beratungsstellen können helfen, diese Fragen mit den Betroffenen zu reflektieren. Und in Selbsthilfeorganisationen kann der Nährboden geschaffen werden, auf dem solche Aspekte der Lebensqualität vermehrt angesprochen und ausgetauscht werden.

Kasten:

Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen

Für die SELODY-Studie suchen wir Paare, bei denen sich im Verlauf der Partnerschaft eine deutliche Verschlechterung des Seh- und ev. des Hörvermögens des einen Partners manifestierte. Sie werden zwei Mal im Abstand von einem Jahr befragt, wobei die Partner den Fragebogen unabhängig voneinander beantworten. Für die Befragung stehen vielfältige Möglichkeiten bereit (online, Grossdruck, Telefoninterview, Interview in Gebärdensprache, usw.). Die Hochschulen sind neutral und garantieren Ihnen die vollständige Anonymität. Die Studie verfolgt rein wissenschaftliche Ziele.

Ein Formular zur Anmeldung sowie weiterführende Informationen finden Sie auf www.selody.ch und bei allen Beratungsstellen für Menschen mit Seh- oder Hörsehbehinderung in der Schweiz. Wir laden Sie herzlich zur Teilnahme ein und würden uns freuen, wenn Sie mit uns Kontakt aufnehmen!

Dr. Christina Breitenstein und

M.Sc. Isabella Bertschi

Universität Zürich

Psychologisches Institut

Binzmühlestrasse 14/23

8050 Zürich

 

Das Studienteam erreichen Sie per Mail über info.selody@uzh.ch oder telefonisch

044 635 75 34.

 

Für Fragen an den Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen SZBLIND:

Stefan Spring, Forschungsbeauftragter

spring@szblind.ch, 079 617 22 34