2015 wurden die Ergebnisse der Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung (SAMS) veröffentlicht. SAMS hatte aufgezeigt, dass noch einiges zu tun ist, um einen verbesserten Zugang ins Berufsleben oder den Erhalt von Stellen für Menschen mit einer Sehbehinderung zu erreichen. tactuel möchte nun wissen, was sich seit Veröffentlichung der Studie verändert hat. Wir haben mit sieben Fachpersonen* in der Deutsch- und Westschweiz gesprochen, die sich in verschiedenen Organisationen mit der beruflichen Integration befassen.

Die Interviews führten Nina Hug und Carol Lagrange

tactuel: Was hat sich insbesondere nach der Veröffentlichung
der SAMS-Studie im Bereich der beruflichen Integration seitens des Sehbehindertenwesens getan?

Catherine Rausch (SBV): Die SAMS Studie hatsicher dazu beigetragen, dass der SBV ermutigt wurde, sich dem Thema berufliche Integration vermehrt anzunehmen. So haben wir vor fast vier Jahren das Job Coaching ins Leben gerufen. In den Zeitraum seit SAMS fallen zudem auch Initiativen vieler weiterer Anbieter. Die verstärkte Zuwendung
zum Thema berufliche Integration hat insbesondere zu einem Ausbau an Beratungsangeboten am eigenen Arbeitsplatz geführt: Es geht nun nicht mehr nur allein um die technische Ausrüstung des Arbeitsplatzes, sondern vielmehr um ganzheitliche Fragen, wie dem Profil der Stelle,
dem Arbeitspensum etc.

Valérie Scholl (ABA): In der Westschweiz gibt es heute einen spezialisierten Berufsberatungsdienst für sehbehinderte Menschen (die Plattform PORTAILS von CPHV), regionale Beratungsstellen wie das CENTREVUE in Neuenburg und sogar unabhängige Fachleute, die mit den IV-Stellen ihres Kantons Dienstleistungsverträge für die berufliche
Eingliederung abgeschlossen haben. Auch das SRIHV (Service Romand d’Informatique pour Handicapés de la Vue) hat seine Dienstleistungen
im Bereich Arbeitsplatz stark erweitert. All das ist in den letzten Jahren entstanden. Es wurde auch erkannt, wie wertvoll ein auf Sehbehinderung ausgerichtetes Jobcoaching ist.

tactuel: Einige Dienstleister im Blindenwesen haben sehr umfassende Angebote entwickelt, die von der Begleitung von Auszubildenden über Assessments bis hin zur Begleitung durch Jobcoaches reichen.
Wie sind diese Angebote aufgebaut?

Irmingard Eberhard (obvita): Arbeitnehmende mit einer Sehbehinderung können von einer ganzheitlichen Begleitung profitieren. So verzahnen sich die Angebote der Sehberatung, der Low
Vision und O&M, der Jobcoaches und der Berufsbildenden. Damit erzielen wir gute Resultate. Für Menschen, die eine erstmalige berufliche Ausbildung machen, stellt sich ja immer die Frage, welche Berufe ihnen offen stehen. Grundsätzlich sind viele Berufe mit adaptierten Lösungen möglich. Ist die Entscheidung gefallen, nehmen die Fachleute der Sozialinformatik die Ausstattung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln in die Hand. Fachleute der Sehberatung kümmern sich
darum, dass Lerninhalte der Berufsschule zugänglich sind. Sie instruieren Lehrpersonen und informieren den Klassenverband. Im Betrieb stehen Lernenden Berufsbildnerinnen und Berufsbildner zur Seite. Bei der Suche nach passenden Anschlusslösungen kann auf die Unterstützung eines Jobcoaches zurückgegriffen werden. Er ist auch
Ansprechpartner für den Arbeitgeber. Jobcoaches instruieren Arbeitsteams und informieren über die Bedürfnisse des Menschen mit Sehbehinderung und seine Seheinschränkung. Lernende werden während einer Ausbildung und bei Bedarf auch während des Berufseinstiegs durch regelmässige Gespräche begleitet.

Aline Leavy (CPHV): Vor zwei Jahren hat das CPHV «PORTAILS» geschaffen, eine Plattfom für die berufliche Eingliederung von Menschen mit Sehbehinderungen. Mit der Plattform wollen wir den Übergang von der obligatorischen Schule zum ersten Arbeitsmarkt gewährleisten. Über die Plattform werden bestehende Dienste der Fondation Asile des aveugles vernetzt: Sozialarbeit, Rehabilitation und Low Vision, die Massnahmen zur beruflichen Orientierung, das Zentrum für technische Anpassungen und Zugänglichkeit sowie die Erwachsenenbildung des CPHV. Die multidisziplinäre Vernetzung steht im Mittelpunkt des Berufsberatungsprozesses und ist unserer Meinung nach für die erfolgreiche Betreuung sehbehinderter und blinder Menschen notwendig. Die über die Plattform realisierten Berufsberatungs-massnahmen sollen helfen, die Anforderungen an ein Praktikum oder eine Lehrstelle zu definieren oder die Berufsschulausbildung eines Schülers oder einer Schülerin zu unterstützen.

tactuel: Eine Empfehlung der SAMS-Studie war, dass das Seh-behindertenwesen enger mit IV-Stellen oder Stellen der Arbeits-vermittlung zusammen arbeiten sollte. Was ist in dieser Hinsicht passiert?

Eliane Boss (Beraten B): Gerade diese geforderte intensive Zusammenarbeit mit der IV hat bei Beraten B zusammen mit der Weiterentwicklung der bestehenden Dienstleistungen zu einem spezifischen Angebot im Bereich der beruflichen Integration sehbehinderter Menschen geführt. Die IV hat explizit das Bedürfnis geäussert, sehbehinderte Klientinnen und Klienten im Grossraum Bern in eine berufliche Eingliederungsmassnahme vermitteln zu können. Weil in unserer Fachstelle sowohl das spezifische Low Vision-Fachwissen als auch das Knowhow bezüglich Jobcoaching vorhanden war, konnten wir auf diese Nachfrage durch die IV reagieren. Seither führen wir für die IV verschiedene Eingliederungsmassnahmen durch. Um eine berufliche Situation zu analysieren verfügt die IV jeweils ein Assessment bei Beraten B, das aus mehreren Abklärungsteilen besteht: Zunächst wird die berufliche und soziale Situation erfasst, anschliessend folgen die Teile Low-Vision-, IT und O&M. Im Gespräch mit der betroffenen Person ersuchen wir herauszufinden, wie sich die Situation der Sehbehinderung
auf ihren Arbeitsalltag auswirkt. Im Rahmen einer Folgemassnahme «Coaching am Arbeitsplatz» ermitteln wir dann, ob Hilfsmittel die Situation an einem konkreten Arbeitsplatz verbessern können oder ob das Pflichtenheft der berufstätigen Person angepasst werden kann. Wir erleben erfreulicherweise immer wieder Arbeitgeber, die Menschen mit einer Sehbehinderung unbedingt in ihrem Betrieb halten wollen.

Christine Noirjean und Olivier Blaser (Centrevue): Von der IV Neuchâtel sind wir seit über einem Jahr als Dienstleister für fünf Massnahmen der beruflichen Integration anerkannt: Assessment, Coaching, Arbeitsplatzanalyse, Arbeitsplatzgestaltung und visuelle Umgebungsgestaltung. Seit der Einführung von Frühinterventions-massnahmen wendeten sich die IV-Beraterinnen und -Berater oft an das Centrevue, weil sie nicht wussten, wie sie einen Arbeitsplatz für Menschen mit leichten Sehbehinderungen oder anderen visuellen Schwierigkeiten, welche die berufliche Leistung beeinträchtigten,
gestalten sollten. In solchen Fällen erhielten wir Mandate. Vor drei Jahren nahmen wir erneut Kontakt mit der IV auf, um unsere Interventionen im Rahmen der Früherkennung neu zu definieren. Die Anerkennung der genannten fünf Massnahmen ist nun das Ergebnis einer langjährigen guten Zusammenarbeit und diversen Gesprächen
mit den Verantwortlichen der IV.

tactuel: Läuft eine Massnahme zur beruflichen Integration oder Erhalt eines Arbeitsplatzes immer über die IV? Oder gibt es auch Fälle, in denen sich die Klientinnen und Klienten selber melden?

Irmingard Eberhard (obvita): Die meisten Klienten und Klientinnen werden uns durch die zuständigen IV-Stellen vermittelt. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich betroffene Menschen zuerst bei den obvita Sehberatungsstellen melden, wenn sie das Gefühl haben, am Arbeitsplatz in Schwierigkeiten zu kommen, weil sie die geforderte Leistung nicht mehr erbringen können. Sind diese Klientinnen und Klienten noch nicht bei der IV gemeldet, so wird eine Anmeldung empfohlen. Die IV entscheidet dann, ob eine Massnahme angezeigt ist und wenn ja welche.

Christine Noirjean und Olivier Blaser (Centrevue): Ungefähr jeder zweite Fall wird uns von der IV zugewiesen. Die betroffene Person kann sich aber auch zuerst an Centrevue wenden. Dann wird gemeinsam ein Projekt für die IV ausgearbeitet und anschliessend mit dem IV-Berater
besprochen.

Catherine Rausch (SBV): Wir erleben Beides. Wir bedauern, dass wir von Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, oft erst spät involviert werden.
Eine frühe Intervention würde häufig mehr Lösungen ermöglichen.

Irmingard Eberhard (obvita): Dem stimme ich zu. Wir sehen oftmals Fälle, in denen eine erhöhte Achtsamkeit seitens des Augenarztes, des Arbeitgebers oder eines Therapeuten eine frühere Intervention der IV möglich gemacht hätte. Damit wären den betroffenen Personen grosse Belastungen erspart geblieben.

tactuel: Die Kommunikation der Sehbehinderung bei den Arbeit-gebenden ist in der Studie als wichtiger Faktor erkannt worden. Inwiefern hilft das Infoset des SZBLIND bei der aktiven Kommunikation?

Catherine Rausch (SBV): Die Betroffenen müssen lernen, ihre Sehbehinderung und die dadurch entstehenden Bedürfnisse zu erklären. Was heisst die Sehbehinderung für den Alltag, was brauchen sie an Hilfe und Tools am Arbeitsplatz? Das Infoset des SZBLIND hilft den Mitarbeitenden ihr Umfeld zu sensibilisieren. So schätzen Vorgesetzte und Teams viel besser ein, wie sie die Person unterstützen und gleichzeitig eine falsche Rücksichtnahme verhindern können. Ein
weiteres Angebot, das die Kommunikation der Sehbehinderung stützt, ist das Bewerbungstraining des SBV. Die Teilnehmenden tauschen sich in einer Gruppe darüber aus, was es heisst, die Sehbehinderung bei der Stellensuche zu kommunizieren und wie man das am geschicktesten
tut.

Valérie Scholl (ABA): Die Sensibilisierung ist ein integraler Bestandteil unseres Angebots. Zur Bewusstseinsbildung finden wir das Infoset «Gut
im Job» sehr nützlich. Zunächst für die Person selbst, um sich ihrer Situation bewusst zu werden und als Inspirationsquelle für mögliche Strategien, mit der Sehbehinderung am Arbeitsplatz umzugehen. In einem zweiten Schritt ermöglicht dieses Instrument die Vorbereitung der Sensibilisierung der Arbeitskolleginnen und -kollegen durch die betroffene Person. Wir setzen das Infoset als Sensibilisierungsinstrument ein und ergänzen es durch andere Inputs.

tactuel: Wir haben über die vielen entstandenen Angebote seitens des Sehbehindertenwesens gesprochen. Wie steht es mit der Transparenz des
Angebots?

Catherine Rausch (SBV): Es gibt durch die Stärkung der Dienst-leistungen zur beruflichen Integration eine gewisse Konkurrenz an Angeboten. In der SAMS Studie war klar gefordert worden, dass es einen besseren Überblick geben solle über alle Angebote. Das ist leider auch heute noch nicht der Fall, eher im Gegenteil. Für die Betroffenen hat die Zunahme der Angebote aber auf jeden Fall einen klaren Nutzen, da die einzelnen Anbieter gefordert sind, eine hohe Qualität zu bieten, um ihre Klienten zu erreichen.

Valérie Scholl (ABA): Die aktuelle Herausforderung für die Beteiligten besteht in der Tat darin, zu wissen, an wen sie sich wenden sollen und wer was tut. Es ist eines der Ziele der Kommission Berufseingliederung
des SZBLIND, in der ich Mitglied bin, einen schweizweiten Überblick über die verschiedenen Dienstleistungen zu erstellen, um die Transparenz und den Zugang zu Informationen zu erhöhen.

tactuel: Die Arbeitgebenden zu sensibilisieren, dass Menschen mit einer Sehbehinderung wertvolle Arbeitskräfte sind, ist eine weitere Forderung
von SAMS. Wie geht das Sehbehindertenwesen auf sie zu?

Catherine Rausch (SBV): Die Nähe zu den Arbeitgebern entwickelt sich im gesamten Blindenwesen langsam, da haben wir noch eher wenig
Profil. Beim SBV versuchen wir unsere Partnerschaften zu einzelnen Arbeitgebern und Verbänden zu pflegen und Informationen bei den
Arbeitgebern zu platzieren. Zudem engagieren wir uns im und zusammen mit dem Lions Club für mehr Stellen für sehbehinderte Menschen oder deren Arbeitsplatzerhalt. Gleichzeitig sind wir Mitglied bei compasso, einem Informationsportal für Arbeitgeber, welches viele wichtige Ansätze für Arbeitgeber im Umgang mit Mitarbeitenden mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erarbeitet.

Irmingard Eberhard (obvita): Die Suche nach Arbeitgebern im ersten Arbeitsmarkt bedeutet «Klinken putzen, suchen, suchen, suchen». Aber
oftmals treffen wir auf offene Ohren, auf Arbeitgeber, die zuhören und sehbehinderten Menschen eine Chance geben wollen. Wichtig ist, dass Arbeitgebende wissen, an welche Fachleute sie sich bei Fragen oder Unsicherheiten wenden können.

*Catherine Rausch (Leiterin Job Coaching beim Schweiz. Blinden- und Sehbehindertenverband SBV), Eliane Boss (Leitung Beraten B), Valérie Scholl (Ergothérapeute spécialisée en basse vision – Association pour le Bien des Aveugles et malvoyants, Genève), Aline Leavy (Responsable
PORTAILS, Centre pédagogique pour élèves handicapés de la vue CPHV, Lausanne), Olivier Blaser et Christine Noirjean (Directeur et directrice adjointe/assistante sociale Centrevue, Neuchâtel), Irmingard Eberhard
(Leiterin Berufliche Bildung bei obvita).