Über 90 Prozent aller Bücher sind für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich. Wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Am 30. September trat der Marrakesch-Vertrag in Kraft: ein internationales Abkommen, das die Umwandlung urheberrechtlich geschützter Werke für sehbehinderte Menschen erleichtert. Wie handhaben die Schweizer Blindenbibliotheken die Beschränkungen des Urheberrechts? Was wird unternommen, um mehr Bücher zugänglich zu machen?

Von Ann-Katrin Gässlein

Durch Gitterstäbe hindurch sieht man eine Frau lesend in einer Bibliothek.

Über 90 Prozent aller Bücher weltweit sind für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich.
Bild: deyangeorgiev, photocase.com

„Beim Urheberrecht gibt es zwei Seiten“, erklärt Heinz Zysset, Abteilungsleiter bei der SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte. Einmal besitzt der Autor oder die Autorin, ebenso wie ein Komponist, eine Malerin oder ein anderer Künstler die persönlichen Rechte am eigenen Werk. Diese besagen, dass niemand das Werk bearbeiten oder kürzen darf ohne Einwilligung des Urhebers.“ Auf Bücher bezogen heisst das: Niemand darf in den Inhalt des Buches eingreifen und dort etwas verändern.“

Daneben haben in der Regel Verlage das Recht an der Vervielfältigung und dem Vertrieb eines Werkes. Wenn eine gewöhnliche Bibliothek im Handel eine Veröffentlichung kauft und diese anbietet, so ist umstritten, ob hier bereits das Urheberrecht hinsichtlich des „Vertriebs“ betroffen ist. Bis jetzt schulden Bibliotheken den Verlagen allerdings keine Vergütung. Anders bei den Blindenbibliotheken: Diese bereiten Bücher barrierefrei auf, machen sie zugänglich, zum Beispiel als Braille-Bücher, vervielfältigen sie – und tangieren damit in der Tat das Urheberrecht.

Noch in den 1990er Jahren mussten die Blindenbibliotheken alle Einwilligungen als schriftliche Lizenzen bei den einzelnen Verlagen einholen: „eine sehr lästige Aufgabe, die viel Arbeit verursacht hatte“, so Heinz Zysset. Bevor ein Werk in Braille übertragen oder für eine CD aufgesprochen werden konnte, hiess es abwarten. Einige Verlage antworteten nicht, andere erteilten keine Genehmigungen, wieder andere versuchten, aus dem Genehmigungsverfahren finanziell zu profitieren.

Einheitliches Verfahren dank Schutzausnahme

Im Jahr 2008 ergänzte die Schweiz ihr Urheberrecht um eine so genannte „Schutzausnahme“. Diese besagt, dass Übertragungen von urheberrechtlich geschützten Werken für Menschen, die hinsichtlich des Lesens eingeschränkt sind, auch ohne Genehmigung der einzelnen Verlage geschehen können – aber diese Nutzung muss den Urhebern vergütet werden.

2009 schlossen die Blindenbibliotheken mit Pro Litteris, der dafür zuständigen Verwertungsgesellschaft, einen ersten Vertrag, der 2012 neu verhandelt wurde. Ein gemeinsamer Tarif für die Nutzung und die Entgeltung wurde festgelegt. „Bei physischen Produktionen wie Braille-Bücher, die mehrmals ausgeliehen werden, bezahlen wir für jedes Ausleihexemplar; bei Hörbüchern, die man online beliebig oft herunterladen kann, bezahlen wir pro Download“, erzählt Heinz Zysset. Zwischen 44’000 und 47’000 Franken kostet die Abgeltung der Urheberrechte die SBS pro Jahr – verglichen mit dem Aufwand der früheren Zeiten, als jede Genehmigung einzeln erfragt werden musste und gemessen am heutigen Angebotsvolumen der Bibliothek eine lohnende Investition, „ein vernünftiger Interessensausgleich.“

Von Zugänglichkeit noch weit entfernt

Obwohl die Blindenbibliotheken in den letzten Jahrzehnten ihr Angebot stark ausgebaut haben, ist das Missverhältnis nach wie vor offenkundig: Rund 100’000 Bücher erscheinen pro Jahr neu auf dem deutschsprachigen Markt; etwa 5’000 Neuerscheinungen nimmt die SBS in ihr Repertoire auf. Eine Quote von fünf Prozent. Weltweit ist über 90 Prozent der Buchproduktion behinderten Menschen nicht zugänglich.

„Von den technischen Möglichkeiten her wären heute viel mehr Bücher zugänglich: Hörbücher sowieso, insofern die Kapitel navigierbar sind; aber auch E-Books sind prinzipiell lesbar“, berichtet Heinz Zysset. Das Problem im Buchhandel liege aber vor allem im Weg zur Buchbeschaffung, der voller Hürden ist. „Die Verlage und Händler haben bei ihren Onlineangeboten nicht die ältere, sehbehinderte oder blinde Kundschaft im Blick“, meint Heinz Zysset. Sich auf einer Amazon-Website ohne angepasste Suchfunktion zurechtzufinden, ein Hörbuch online zu downloaden und dafür einen Account und einen Online-Bezahlvorgang einzurichten – diese Schritte sind für ältere Menschen mit Sinnesbehinderung eine so grosse Herausforderung, dass sie häufig auf halber Strecke aufgeben. „Aus unserer Sicht wäre es erheblich besser für blinde und sehbehinderte Menschen, es würde nicht 1000 Beschaffungsmöglichkeiten, sondern nur eine einzige geben. Diese Beschaffungsmöglichkeit muss aber klar und offen sein und auch ein Beratungsangebot beinhalten.“ Eine solche Rolle könnten die Blindenbibliotheken in der Zukunft übernehmen.

Bücher für blinde Menschen weltweit

Der so genannte Marrakesch-Vertrag, der Ende September in Kraft trat, betont nochmals eine andere Seite des Urheberrechts. Der Vertrag beinhaltet zwei Aspekte: Einmal muss das beitretende Land eine bindende Regelung finden, wie es mit dem Urheberrecht umgehen will – zum Beispiel wie die Schweiz eine „Schutzausnahme“ festlegen. Daneben verfügt der Vertrag, dass zugängliche Bücher auch über die Landesgrenzen hinaus für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten werden können. „Dies ist für die Entwicklungsländer ausgesprochen wichtig“, betont Heinz Zysset. Englische, französische oder spanische Literatur wäre viel günstiger, da sie im Idealfall nur einmal zugänglich gemacht werden und weltweit genutzt werden könnte. Zudem beinhaltet der Marrakesch-Vertrag globale Rechtssicherheit.

Die Schweiz hat, wie auch verschiedene EU-Länder, den Marrakesch-Vertrag unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert. Während die EU noch streitet, ob die Vertragsratifizierung Sache der EU-Kommission oder Angelegenheit der einzelnen Länder sei, ist die Schweiz hier einen Schritt weiter. Die nächste Anpassung im Urheberrecht, die Heinz Zysset in diesem oder im nächsten Jahr erwartet, könnte die bereits bestehende Schutzausnahme ergänzen und die Nutzung der zugänglichen Werke über die Landesgrenzen hinaus ermöglichen.