Eine Low Vision Abklärung hat zum Ziel, das funktionale Sehen eines Menschen mit Sehbehinderung einzuschätzen. Doch wie testet man das funktionale Sehen bei Kindern, wenn diese entweder auf Grund ihres Alters oder auf Grund einer zusätzlichen Einschränkung keine verbale Rückmeldung auf Gesehenes geben können? Katinka Probst, Ressortleitung der Fachstelle Sehen am Heilpädagogischen Schul- und Beratungszentrum Sonnenberg und Luisa Gallay, Leiterin heilpädagogische Früherziehung des Centre pédagogique pour élèves handicapés de la vue CPHV, haben diese Frage für uns beantwortet.

Die Interviews führten Nina Hug und Carol Lagrange

Ein Kind beugt sich über einen Leuchtkasten mit farbigen Säulen, schwarzen Linien und farbigen Punkten.
Bild: Sonnenberg Baar

Was ist das Ziel einer Low Vision Abklärung bei Kindern?

Luisa Gallay: Die Beurteilung des funktionalen Sehens gibt Auskunft darüber, in welchem Umfang das Kind seinen Sehsinn nutzen kann. Wir beobachten, wie es von seinen vorhandenen Sehmöglichkeiten Gebrauch macht, auch wenn diese sehr eingeschränkt sind.

Katinka Probst: Aus der Einschätzung des funktionalen Sehens entstehen dann Empfehlungen für die Umsetzung der Low Vision-spezifischen pädagogischen Massnahmen, welchen von weiteren Fachpersonen im schulischen und vorschulischen Alltag umgesetzt werden.

Luisa Gallay: Mit den Ergebnissen ist es uns auch möglich, die Eltern zu beraten, Vorschläge zur Anpassung des Umfeldes und der persönlichen Gegenstände des Kindes zu machen oder auch angepasste Hilfsmittel anzubieten.

Wie gehen Sie vor, um sich auf eine Abklärung vorzubereiten?

Katinka Probst: Eine Augenärztliche Kontrolle muss stattgefunden haben, bevor wir das funktionale Sehen des Kindes einschätzen. Wir wollen damit sicherstellen, dass eine optimale medizinische und wenn möglich optische Versorgung vorhanden ist.

Insbesondere bei kleinen Kindern und bei Kindern mit zusätzlicher Beeinträchtigung fliesst ein wesentlicher Teil unserer Arbeit in die Vorbereitung, die Anamnese. Wir holen Informationen ein beim Neuropädiater oder bei der Neuropädiaterin, bei den Eltern, bei den Bezugspersonen und Therapeutinnen und Therapeuten, die das Kind evtl. ebenfalls betreuen. Unser Ziel ist es, mit gezielten Fragen an diese Personen so viel wie möglich über das Sehverhalten des Kindes in Erfahrung zu bringen? Kann es das Sehen aktiv einsetzen? Greift es nach Dingen? Wurde beobachtet ob das Kind auf optische Reize reagiert? Kann es die Augen aktiv bewegen, um etwas anzuschauen? Wir bedienen uns der Aussagen und Beschreibungen der Kontaktpersonen des Kindes aber auch Filmaufnahmen, die die Eltern oder Bezugspersonen aus dem Alltag des Kindes mit ihren Handys machen. Die Anamnese macht deshalb einen so grossen Teil der Abklärung aus, weil es sein, kann, dass das Kind nach 5 Minuten nicht mehr mitmachen mag und deshalb keine alles umfassende Low Vision Einschätzung möglich ist.

Luisa Gallay: Wir müssen die Gesamtsituation des Kindes analysieren (Alter, Art der Behinderung, motorische Geschicklichkeit, Familiensituation) und mit der Familie Kontakt aufnehmen, um gemeinsam den für das Kind während des Tages am besten geeigneten Untersuchungszeitpunkt zu finden. Weiter müssen wir die Ziele der Beurteilung festlegen und auf die Situation des Kindes angepasste Test- und Hilfsmittel zur Anregung optischer Reize zusammenstellen. Hierbei kann es sich um Standardhilfsmittel wie den sogenannten Preferential-Looking-Test, den Nef-Trichter aber auch um persönliche Gegenstände zur Förderung der Neugier handeln. Manchmal kommen wir mit einem riesigen Koffer voll Material zu den Familien. Es liegt an uns, ein Gespür dafür zu entwickeln, mit welchen Mitteln ein im Kind schlummerndes förderfähiges Potenzial zutage gebracht werden kann und welche Aspekte basierend auf unseren Beobachtungen gefördert werden können.

Was genau klären Sie ab und wie gehen Sie vor?

Katinka Probst: Ich arbeite vorwiegend mit Kindern mit einer zusätzlichen Beeinträchtigung. Wir gehen immer vom Entwicklungsstand des Kindes aus. Was bringt das Kind schon mit? Von diesem Punkt gehen wir aus und schauen, was ist machbar in der Entwicklung? Zum Beispiel können wir abklären, wo das visuelle Angebot sein muss, damit das Kind es sieht. Ist es im Nahbereich oder in der Ferne, eher am Rand des Gesichtsfelds oder im Zentrum? Reagiert das Kind auf Bewegung oder auf Farben? Wir wollen geeignete Situationen schaffen, in denen das Kind das Sehen nutzen kann. Ich gebe mal ein Beispiel eines mehrfach beeinträchtigten Kindes, das ich betreffend Low Vision begleite. Das Kind kann das Sehen nur ganz punktuell einsetzen und unter ganz bestimmten Bedingungen. Der Raum muss ganz dunkel sein und es dürfen keine akustischen Reize hinzukommen. Das konnten wir durch die Anamnese und erste Abklärungen in Erfahrung bringen. Wenn wir mit diesem Kind eine Abklärung machen, verwenden wir die Lightbox. So erzeugen wir optische Reize, die das Kind neugierig machen sollen und zum Beispiel ein Greifen initiieren. Unsere Beobachtungen des Kindes und seines Sehverhaltens in solchen bewusst herbei geführten Situationen machen den Hauptteil der Einschätzung des Funktionalen Sehens aus. Das Ergebnis unserer Abklärung muss sein, dass die Bezugspersonen immer wieder Situationen schaffen, in denen das Kind aufgefordert wird, das Sehen zu nutzen. Dann kann es Entwicklungen zum besseren Sehen geben. Aber es gibt auch immer wieder Rückschläge.

Luisa Gallay: Bei Kindern mit einer Sehbehinderung ohne zusätzliche Beeinträchtigung stehen uns für die Messung der Sehschärfe spezifische Tests zur Verfügung. Wir untersuchen auch die Sehstrategie, die Breite des Gesichtsfeldes sowie das Kontrast- und Farbensehen. Danach beobachten wir unter Nutzung angepasster Hilfsmittel das Sehverhalten des Kindes. Dabei achten wir insbesondere auf die Neugier und das Sehinteresse, die Reaktion auf Licht, die Augen-Hand-Koordination, das Verhalten während alltäglichen Aktivitäten und das Spielverhalten. Natürlich passen wir unser Beurteilungsverfahren je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes an. Jedes Mal, wenn ich bei einem Kind eine Erstbeurteilung vornehme, bin ich nervös und hoffe, dass ich herausfinden kann, wie sich seine noch verbleibende Sehfähigkeit fördern lässt. «Wenn ich mir gestatte, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, werde ich meiner Aufgabe gerecht.» Dieses Zitat bringt meine Haltung in Bezug auf meine Tätigkeit sehr gut zum Ausdruck.

Wie wirkt sich Ihre Beurteilung auf das Leben der Kinder in ihrem familiären und schulischen Umfeld aus? Welche Aufgabe kommt Ihnen im Austausch mit Personen aus anderen Fachbereichen zu?

Luisa Gallay: Unsere Aufgabe besteht darin, Auskunft über die Nutzung der Sehfähigkeit zu geben und darauf aufmerksam zu machen, was das Kind benötigt, um Informationen aus seiner Umwelt über den Sehsinn «aufnehmen» zu können. Wir wollen dazu beitragen, dass das Kind Spass am Sehen und am Gebrauch seiner Sehfähigkeit zur Informationsaufnahme haben kann. Dazu müssen die Lichtverhältnisse, die Kontraste, der Vergrösserungsbedarf, die Grösse von Objekten und Bildern sowie die Farben entsprechend angepasst werden.

Wenn sich Fachpersonen aus anderen Disziplinen um das Kind kümmern, besteht unsere Aufgabe darin, diese Personen über die spezifischen Bedürfnisse des Kindes zu informieren, damit es den bestmöglichen Sehkomfort hat. Dieser Informationsaustausch findet stets in Anwesenheit der Eltern des Kindes statt.

Katinka Probst: Wir haben nie nur das Kind selbst vor uns sondern immer den systemischen Kontext. Wir müssen uns fragen, welche Therapien besucht das Kind schon? In welchen schulischen Situationen befindet es sich? Es ist sehr wichtig, die Sehförderung in den Alltag zu integrieren. Unsere Empfehlungen für die Förderung des Sehens müssen von allen Bezugspersonen umgesetzt werden können.

Kann man davon ausgehen, dass alle Kinder mit Förderbedarf Sehen in der Schweiz eine entsprechende Abklärung erhalten?

Luisa Gallay: Nein, leider gibt es immer noch Fälle, die nicht gemeldet werden. Dies betrifft vor allem Kinder mit Mehrfachbehinderung, bei denen man sich zuerst um die grundlegende Gesundheitsversorgung kümmert, bevor dem visuellen System Beachtung geschenkt wird.

Katinka Probst: Das kann ich bestätigen. Bei Kindern im Bereich Sehen Plus werden häufig keine spezifischen Abklärungen im Hinblick auf das Sehen gemacht. Auf Sehen Plus spezialisierte Schulen in der Deutschschweiz sind die Blindenschule Zollikofen, das Therapie Schulzentrum Münchenstein, der Sonnenberg in Baar und die Tanne in Langnau am Albis (mit Spezialisierung auf Hörsehbehinderung). Daneben bieten weitere Institutionen und Fachstellen ambulante Leistungen in dem Bereich an. Kinder mit Mehrfachbehinderung werden in nicht für Sehbehinderung spezialisierten Heilpädagogischen Schulen häufig nicht spezifisch auf einen Förderbedarf Sehen abgeklärt. Hier ist es wichtig, die Institutionen auf das Thema Sehen hin zu sensibilisieren.

Wie vermitteln Sie den Bezugspersonen, anderen Lehrpersonen und Therapeuten, wie sie die Kinder im Sehen fördern können?

Katinka Probst: Ein Teil unseres Low Vision-Arbeitspensums verwenden wir explizit auf das Anleiten der Lehrpersonen, Heilpädagogen und Bezugspersonen, wie sie die visuelle Situation der Kinder fördern können. Bei Kindern, die integrativ beschult werden, ist es ebenfalls wünschenswert, dass die Lehrperson versteht, wie der Schüler oder die Schülerin sieht. Häufig erschrecken die Lehrpersonen darüber, wenn ihnen vor Augen geführt wird wie wenig das Kind wirklich sieht, denn im Unterricht ist dies nicht immer offensichtlich.

Unser Low Vision-Bericht soll die aktuelle Sehleistung des Kindes dokumentieren, Förderschwerpunkte definieren und mögliche Hindernisse im Alltag konkret benennen, auf Verbesserungsmöglichkeiten hinweisen.