von Andrea Eschbach

Urs Kaiser schreitet zügig voran. Als begeisterter Wanderer hat er sich heute den Albisgrat-Höhenweg oberhalb von Zürich vorgenommen. Kaiser ist seit 30 Jahren blind, was ihn jedoch nicht von seinem Lieblingshobby, dem Wandern, abhält. Unterstützt wird er dabei von der App „MyWay Pro“. Diese App wurde vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV speziell für blinde und sehbehinderte Personen entwickelt.

Ein Mann in Outdoor-Kleidern hält das iPhone flach vor sich. Er berührt den Bildschirm mit geschlossenen Augen und lauscht auf die Stimme des Telefons.
Urs Kaiser lauscht den Angaben der App. Bild: Markus Schneeberger

Seit kurzem ist die App als Folge der Zusammenarbeit zwischen Procap Schweiz und SchweizMobil mit deren digitalem Wanderwegnetz verknüpft. Dieses Netzwerk für den Langsamverkehr hat 72 hindernisfreie Wanderwege ausgeschildert. Die Routen sind rollstuhlgängig, eignen sich aber auch für Familien mit Kinderwagen. Die Wege führen häufig entlang an Flussläufen oder Seeufern oder durch andere landschaftlich attraktive Gegenden. Nun sind die Routen so ergänzt worden, dass sie auch für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung geeignet sind.

Richtung, Orientierungspunkte und Gefahren
An einem Frühlingstag demonstriert Urs Kaiser, Gründer und heutiger Ehrenpräsident der Apfelschule, einer Schar neugieriger Journalisten und Interessenten anlässlich einer Kurzwanderung auf dem Hausberg der Zürcher, was es mit der App auf sich hat. „Die Schramme an meiner Stirn stammt nicht von einem Spaziergang auf einem hindernisfreien Weg – die habe ich mir beim Haushalten geholt. Dort laufe ich in der Regel ohne MyWay“, sagt er und sorgt zunächst für Lacher. Das Lachen vergeht den Begleitern aber schnell, denn Kaiser, mit weissem Stock in der rechten und dem Smartphone in der linken Hand, steuert bedrohlich nah an die Kante des steil abfallenden Hangs. Doch rasch hält er inne, justiert wieder neu, da er bemerkte, dass sich der Bodenbelag geändert hat. Mit dem Handy sucht er den „Leitstrahl“. Denn das Smartphone vibriert gut spürbar und zeigt Kaiser damit aufgrund der GPS-Daten die Richtung an. „Die App bietet genau das, was ich als blinder Wanderer unterwegs brauche, nämlich Antworten auf die Fragen: Wohin geht mein Weg, an was kann ich mich orientieren und vor welchen Gefahren muss ich mich in Acht nehmen“, erklärt Kaiser. „Die Angabe der Richtung durch das Vibrieren des Handys ist für mich dabei die grösste Hilfe“.

Mit der App „MyWay Pro“ kann über den Menüpunkt «Routen aus dem Internet» direkt auf die Hindernisfreien Wege zugegriffen werden. In der Übersichtsliste sind zu jeder Tour die Nummer, ihr Name sowie der Start- und der Zielort angegeben. Beim Öffnen der gewünschten Route gelangt man zu einer ausführlichen Beschreibung der Tour und zu Angaben über Wanderzeit, Länge, Höhenunterschied und Schwierigkeitsgrad. Auf dem gleichen Bildschirm befindet sich auch eine Taste zum Herunterladen der Tour in das individuelle Routenverzeichnis (Meine Routen) von „MyWay Pro“. Alternativ lässt sich die spezielle Routenführung für blinde und sehbehinderte Personen auch in der App von Schweiz Mobil finden und herunterladen.

Die Nutzenden werden vom Start bis ans Ziel Schritt für Schritt von der App geleitet. Nebst der Richtungsangabe, die auf der ganzen Route mittels Vibration, Tonsignal und einem gut erkennbaren Pfeil angezeigt wird, orientiert die App auch sprachlich über die Richtung und die Distanz zum nächstfolgenden Routenpunkt. Wenn eine sehende Person ein Navi benutzt, dann kann sie, um sich zu versichern, einfach einen Blick auf ihr Navi werfen und sieht dann sofort, dass sie sich auf dem richtigen Weg befindet. „Die Information, dass sie der Strasse 1,5 Kilometer folgen soll, reicht für sie völlig aus. Wenn man aber nichts sieht, sind 1,5 Kilometer eine lange Strecke und die Ungewissheit, ob man sich noch auf dem richtigen Weg befindet, wird bald einmal gross“, sagt Kaiser. „MyWay Pro löst dieses Problem, indem es die Strecke in kürzere Abschnitte unterteilt und uns auf intelligente Weise darüber informiert, in welcher Richtung und in welcher Distanz sich der nächste Punkt auf unserer Route befindet. Und solange wir uns zu diesem Punkt hin, und nicht von ihm wegbewegen, sind wir auf dem richtigen Weg.“ Darüber hinaus vermittelt die App positionsbezogene Hinweise auf diejenigen Merkmale, die den blinden und sehbehinderten Personen als Orientierungshilfen und Leitlinien dienlich sind, weist auf nützliche Einrichtungen am Wegrand hin oder zeigt Hindernisse und Gefahren an. So warnt die App Kaiser vor Stufen oder einer Velosperre und informiert über starke Steigungen. Aber sie gibt ihm auch an, dass hinter einer Wegbiegung ein Brunnen und eine Sitzbank stehen. „Bei temporären Hindernissen warnt mich die App natürlich nicht“, sagt Kaiser, „deshalb sichere ich mich nach wie vor mit dem weissen Stock ab“.

Jedes Jahr neue Routen
Für dieses so aufwendige wie ambitionierte Projekt haben Teams mit je einer sehbehinderten und einer gut sehenden Person die einzelnen Routen erfasst und die für Menschen mit einer Sehbehinderung relevanten Erkennungsmerkmale und Orientierungshilfe Punkt für Punkt in die Routenbeschreibung aufgenommen. Helena Bigler, Leiterin der Abteilung Reisen und Sport bei Procap, sagt: „Die Aufbereitung eines Wegs kostet im Durchschnitt 8000 Franken, trotz der Mitarbeit von zahlreichen Ehrenamtlichen“. Ein hoher Aufwand. Dazu kommt, dass die Informationen auch gepflegt werden müssen: Alle drei Jahre werden die hindernisfreien Routen kontrolliert. Zwei bis drei neue Routen sollen jedes Jahr dazu kommen. Für die Schulung zeichnet die Apfelschule verantwortlich. Denn ganz ohne Schulung geht es nicht, weiss Kaiser: „Es braucht Übung. Manchmal ist auch der GPS-Punkt nicht gut gesetzt, da muss man dann neu starten“.

Kaiser zieht nach der Uetliberg-Wanderung ein Fazit: „My Way Pro gibt sehbehinderten Menschen mehr Selbständigkeit.“ Allerdings räumt er ein, dass es – mal ganz abgesehen vom sozialen Aspekt – bequemer ist, wenn „ich mit einer Person wandern kann, die sich auch visuell orientieren kann“.