Gemeinsame und eigene Spielwelten stärken den Zusammenhalt

Die meisten sehbehinderten Kinder haben sehende Geschwister. Die Redaktion von tactuel wollte mehr über die möglichen Auswirkungen der Sehbehinderung eines Kindes auf die anderen Geschwister in einer Familie erfahren und wie diese die Situation wahrnehmen. Folgender Beitrag basiert auf Aussagen von Elodie und Ghislain, der grossen Schwester und dem Zwillingsbruder von Justine, die von Geburt an blind ist.

Von Carol Lagrange

Die Geschwister Elodie, Justine und Ghislain auf einer Brücke - im Hintergrund ein Fluss.Elodie (16 Jahre), Ghislain und Justine (beide 14 Jahre) wohnen mit ihren Eltern in einem hübschen grauen Haus mit grünen Fensterläden im Kanton Waadt auf dem Land. «Justine ist von Geburt an blind. Dennoch kann sie sich so gut behaupten, dass die Leute oft vergessen, dass sie nichts sieht», erzählt ihre Mutter. Elodie und Ghislain sehen beide und sagen, dass dies keinerlei Einfluss auf ihre Beziehung untereinander habe. «Ich beschütze sie ein wenig mehr», gesteht der Zwillingsbruder von Justine jedoch.

Als die drei noch klein waren, konnten sie alle dieselben Dinge lernen, ohne dass es spürbare Unterschiede gab. Schaukeln, Trampolin springen, wandern, Ski fahren … alles Aktivitäten, die sie immer zu dritt oder als Familie unternommen haben und zum Teil noch heute unternehmen. Zu Hause stehen sowohl die klassischen im Handel erhältlichen Spiele als auch angepasste, mit Brailleschrift versehene und tastbare Spiele sowie Klangspiele auf dem Programm. Alle haben gelernt, dieselben Spiele zu spielen. Die Älteste, Elodie, erinnert sich noch gut daran, wie die Erzieherin des Früherziehungsdienstes mit einer tastbaren Geräuschrolle vorbeikam, damit sie gemeinsam verschiedene Klänge und Materialien entdecken konnten.

Die drei Jugendlichen bekräftigen, dass sie stets auch ihre eigene Spielwelt hatten und auch gerne im jeweils eigenen Zimmer spielten. Wenn Ghislain früher all seine Spielsachen im Korridor auslegte, sagte er seiner Zwillingsschwester nicht unbedingt, sie müsse aufpassen, dass sie nicht über seine Spielsachen stolpere. Wie er jedoch betont, stand er natürlich auf, um ihr zwischen seinen Spielsachen hindurch zu helfen.

«Erst als wir in die Schule kamen, habe ich realisiert, das Justine und ich vielleicht doch etwas verschieden sind», erzählt Ghislain. Er konnte zwar noch ein Jahr lang gemeinsam mit Justine die Vorschule im Centre pédagogique pour handicapés de la vue (CPHV) in Lausanne besuchen, aber danach kamen sie in separate Klassen. Justine ging jeweils einige Tage der Woche in die Sonderschule in Lausanne und lediglich noch einen Tag pro Woche zusammen mit Ghislain in die Schule in ihrem Dorf. Mit der Zeit ging sie allerdings immer weniger oft nach Lausanne und besucht nun, seit sie 12 Jahre alt ist, nur noch eine integrative Schule.

Obwohl Justine ihren Schulweg kennt, gehen ihr Bruder und sie manchmal noch gemeinsam bis zum Bahnhof. Justine hält ihn am Ellbogen fest oder er sie am Arm und los gehts! Am Bahnhof warten jeweils ihre Freundinnen auf sie, und nach Ankunft des Zuges wird sie von Betreuungspersonen der Schule bis zu ihrer Schule begleitet. Die Begleitung, wie sie heute organisiert ist, hat sich bewährt und überfordert auch Ghislain nicht, «der ein Recht auf sein eigenes Leben hat», so seine Mutter. Elodie und Ghislain sind immer für ihre Schwester da. Die beiden sagen, dass es ihre Aufgabe sei, sie zu verteidigen und zu beschützen. Sie wissen aber auch, dass es nicht zu ihren Pflichten als grosse Schwester oder Bruder gehört, sie ständig und überall hin zu begleiten.
Jedes der Geschwister hat zwar auch eigene Hobbys und Ziele, doch sobald eines von ihnen nicht da ist, vermissen sie einander. Für sie hängt dieses Gefühl des Vermissens jedoch nicht mit einer Abhängigkeit der Schwester aufgrund ihrer Sehbehinderung zusammen. Vielmehr erleben alle dieses Gefühl, das etwas fehlt, sobald eines der Geschwister nicht da ist.

Kästchen:

Geschwisterbeziehungen und -konstellationen unterscheiden sich von Familie zu Familie. Der Altersunterschied zwischen Geschwistern wirkt sich auch auf die Wahrnehmung einer Sehbehinderung aus. Daher kann man keinen genauen Zeitpunkt benennen, zu dem sich die Kinder der Sehbehinderung oder Blindheit eines ihrer Geschwister bewusst werden. Gemäss den Rückmeldungen der befragten Familien scheinen Indoor-Spiele bevorzugt zu werden, zumal es schwieriger ist, draussen Ball oder Verstecken zu spielen, wenn eines der Geschwister sehbehindert ist. Alle befragten Kinder sind sich aber einig, dass sich jeder und jede – unabhängig von der Tatsache, dass ein Geschwisterteil eine Sehbehinderung hat – stets auch eigenen Spielen und Beschäftigungen widmet.