Das Bild zeigt die Wahlschablone und die CD auf einem Tisch liegend.

Bild: Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V.

Politische Teilhabe für sehbehinderte und blinde Menschen

Wie können blinde, seh- und hörsehbehinderte Menschen bei Wahlen am politischen Prozess teilhaben? Bislang sind betroffene Menschen meist auf Unterstützung angewiesen, wenn sie ihre politischen Rechte wahrnehmen und abstimmen wollen. Mit E-Voting läge die Lösung für gleiche Wahlmethoden für alle nahe. Jedoch hat der Bundesrat das Einführen des elektronischen Stimmkanals gerade auf die lange Bank geschoben.

Von Andrea Eschbach

Er hat Vertrauen in seine Ehefrau: „Seit rund 30 Jahren füllt meine sehende Frau die Wahl und Abstimmungsunterlagen für mich aus.“ Gerd Bingemann, Interessenvertreter beim SZBLIND, ist blind.  Zum Ausfüllen des Wahlzettels brauchen blinde, seh- und hörsehbehinderte Menschen wie er noch immer eine sehende Person, die ihnen hilft.

Blinde, seh- und hörsehbehinderte Menschen sind auf Unterstützung angewiesen, wenn sie ihre politischen Rechte wahrnehmen wollen. Sie haben in der Schweiz die Möglichkeit, sich an der Urne oder vorgängig von einer Person mit behördlicher Funktion beim Ausfüllen der Stimm- und Wahlunterlagen helfen oder sich von einer Vertrauensperson die Stimm- und Wahlzettel ausfüllen zu lassen. Möglichkeiten, die das Stimm- und Wahlgeheimnis nicht ausreichend wahren. Und sie widersprechen dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), die von allen europäischen Ländern fordert, Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zu garantieren sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen auszuüben. Die am weitesten verbreitete Wahlmethode – das Markieren einer Präferenz auf einem Stimmzettel aus Papier – schliesst die rund 325‘000 Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit in der Schweiz von diesem grundlegenden politischen Recht aus.

Ein Schritt hin zur barrierefreien Wahlmethode in der Schweiz sind digitale Abstimmungsunterlagen. Bislang verarbeitet die Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte in Zürich (SBS) die kantonalen und eidgenössischen Abstimmungsunterlagen der Deutschschweiz und der bilingualen Kantone in digitale Form. In der Westschweiz machen dies die Bibliothèque Braille Romande et livre parlé (für die eidgenössischen Wahlen und den Kanton Genf) und die Bibliothèque Sonore Romande (für die Kantone VD, BE, FR und die Stadt Biel). Die Wahl- und Abstimmungsunterlagen sind auf CD, als MP3 und als Daisy-Hörbuch erhältlich. Das Prozedere ist einfach: Die Kantone lassen der Bibliothek die Abstimmungstexte zur Aufsprache zukommen. „Die blinden, seh- und lesebehinderten Kundinnen und Kunden erhalten die aufgesprochenen Abstimmungsunterlagen meistens gleichzeitig wie die gedruckte Broschüre, welche von den Staatskanzleien versandt wird“, erklärt Roswitha Borer Amoroso, Leiterin Marketing bei der SBS. Einige der Kantone stellen die Audio-Dateien auch zum Herunterladen auf ihre Webseite. Aktuell produziert die SBS Audio-Abstimmungsunterlagen als Hör-CD im Auftrag von 17 Kantonen: AG, BL, BS, BE (deutsch und französisch), FR (deutsch und französisch), GL, GR (deutsch, italienisch, romanisch), LU, NW, OW, SH, SO, SG, TG, UR, ZG, ZH. Auch acht Gemeinden bieten diesen Service an: Biel (deutsch und französisch), Chur, Goldach, St. Gallen, Weggis, Wil SG, Winterthur, Zürich. Jedoch: Finden kommunale Wahlen statt, haben blinde und sehbehinderte Menschen erneut das Nachsehen, weil es keine sehbehindertengerechten Abstimmungsunterlagen für sie gibt.

Die Lösung für gleiche Wahlmethoden für alle läge nahe: Mit barrierefrei ausgestaltetem E-Voting könnten sehbehinderte und blinde Menschen ihre politischen Rechte selbständiger wahrnehmen. Als Vorbild fungiert Estland. Hier werden die Abgeordneten seit 2005 via Internet und seit 2011 über Mobiltelefone gewählt. Hierzulande können im Kanton Basel-Stadt seit 2016 Menschen mit einer Behinderung via elektronischem Stimmkanal abstimmen. Zugelassen sind Stimmberechtigte, welche eine IV-Rente (IV) oder eine Hilflosenentschädigung (HE) beziehen, sowie Stimmberechtigte, welche mit einem ärztlichen Attest belegen, dass sie die Stimme auf konventionellem Weg nicht ohne fremde Hilfe abgeben können. Für die Nutzung des elektronischen Stimmkanals ist eine einmalige Anmeldung erforderlich. Den Stimmberechtigten, die sich dafür angemeldet haben, wird künftig bei jeder Abstimmung das Stimmmaterial auch für die elektronische Stimmabgabe zugesendet. Die elektronische Stimmabgabe erfolgt über eine verschlüsselte Verbindung im Dialog mit einem zertifizierten Server. Dadurch ist die Vertraulichkeit der Stimmabgabe sichergestellt.

Ein bundesweites E-Voting ist jedoch soeben in die Ferne gerückt: In der Schweiz hat der Bund nach massiver Kritik am 26.  Juni beschlossen, E-Voting neben der Stimmabgabe an der Urne und per Brief vorerst nicht als ordentlichen Stimmkanal zuzulassen. Die Vorlage hätte das Zulassungsverfahren für die Kantone vereinfacht und die wichtigsten Anforderungen geregelt. Der Entscheid über die Zulassung des E-Voting hätte weiterhin bei den Kantonen gelegen. Der Versuchsbetrieb soll aber weiterlaufen. Insgesamt 15 Kantone hatten in den letzten Jahren einem Teil der Stimmbevölkerung – vor allem Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern – die elektronische Stimmabgabe ermöglicht. Jedoch gibt es beim Versuchsbetrieb Hindernisse. Diese sind nicht politischer, aber technischer Natur. Im Juni stellte der Kanton Genf den Betrieb seines Systems ein. Dieses war auch von Bern, Aargau und Luzern genutzt worden. Auch die Post lässt ihr bestehendes E-Voting-System fallen. Sie setzt nun voll auf ein neues System, das aber erst ab 2020 schrittweise eingeführt werden soll. Jonas Pauchard, selbst blind,  setzt sich fürs E-Voting ein: „E-Voting würde mir als blinder Person erstmals die Möglichkeit bieten, vollständig autonom und ohne sehende Hilfe abzustimmen. Da uns im Gegensatz zu beispielsweise Deutschland keine Wahlschablonen zum eigenständigen Ausfüllen der Unterlagen zur Verfügung stehen, ist es an der Zeit, sich barrierefreier Alternativen wie E-Voting anzunehmen.“ Und Gerd Bingemann weist daraufhin, dass beim digitalen Urnengang Plattformen und Registrierungsprozess absolut sicher vor unbefugtem Zugriff gestaltet werden müssen.

Eine Wahl mit Wahlschablonen ist derzeit in 14 europäischen Ländern möglich – die Schweiz zählt nicht dazu. Im nördlichen Nachbarland kamen die ersten Stimmzettelschablonen zur Bundestagswahl 1980 in Marburg zum Einsatz. Doch erst im Jahr 2002 zur Bundestagswahl bestand bundesweit die Möglichkeit, dass blinde und sehbehinderte Menschen mit Wahlschablonen wählen können. Die Stimmzettelschablone  wird durch den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband verschickt. Die Schablone mit der Brailleschrift legen die Wahlberechtigten auf den Wahlzettel. Durch Lochungen an der jeweiligen Stelle können Blinde und sehbehinderte Menschen ihr Kreuz machen.  Zur Orientierung gibt es auf Wahlzettel und Schablone an der gleichen Stelle eine Markierung. „Auf kommunaler Ebene können jedoch blinde und sehbehinderte Menschen oft heute noch nicht auf Stimmzettelschablonen zurückgreifen“, sagt Torsten Resa vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV).

Auch in Österreich sind grosse Wahlen für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderungen nach Möglichkeiten aufgearbeitet. Die Wahlen sind durch den Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich mitbetreut. Für die EU-Wahl etwa gab es die vom österreichischen Innenministerium vorab freigegebenen Infomaterialien für den Wahlvorgang und die Wahlmöglichkeiten als Braille-Druck sowie als DAISY-Format auf CD. Zudem wurden Wahl- oder Stimmzettelschablonen erstellt, welche in den Wahllokalen aufliegen. „Theoretisch sind die Wahlhelfer instruiert“, sagt Iris Gassenbauer vom Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Blinden- und Sehbehindertenverbands Österreich. Zudem ist Briefwahl möglich, das heisst die Stimmzettel werden von zuhause aus ausgefüllt und abgeschickt. In begründeten Fällen kann kostenlos auch eine fliegende Wahlkommission angefordert werden, die an die Heimadresse kommt. Die „fliegende Wahlkommission“, oder auch „besondere Wahlbehörde“, besucht Wahlberechtigte auf Antrag direkt an dem Ort, an dem sie sich befinden.

Ob E-Voting oder Wahlschablone: Alternative Wahlmethoden haben das Potenzial, die Zugänglichkeit von Wahlen zu verbessern und wären so ein massgeblicher Beitrag zur Umsetzung der UN-BRK.