Ein Vorzeigebeispiel für Barrierefreiheit im eigenen Zuhause

Reportage aus der Musterwohnung der Fondation Asile des aveugles

 

Für die Fachpersonen im Blinden- und Sehbehindertenwesen stellt die Barrierefreiheit heutzutage eine der grössten Herausforderungen dar. Die Digitalisierung ist in diesem Zusammenhang in aller Munde, doch wie steht es eigentlich um die Barrierefreiheit im direkten Umfeld der betroffenen Personen? Die Fondation Asile des aveugles in Lausanne hat im vergangenen Jahr ihre Musterwohnung eingeweiht – ein Raum, in dem veranschaulicht wird, welche Anpassungen im Zusammenhang mit barrierefreiem Wohnen möglich und umsetzbar sind.

Von Carol Lagrange

Ende September besBild_tactuel_Plattform_1uchte ich auf Einladung der ErgotherapeutInnen des Bereichs Low Vision der Fondation Asile des aveugles die Musterwohnung, die seit 2016 aktiv genutzt wird.

Diese 1,5-Zimmerwohnung erfüllt verschiedene Zwecke. Einerseits ermöglicht sie eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit und des Umfelds von sehbehinderten Menschen für die Probleme, mit denen Letztere in ihrer Umgebung konfrontiert sein können. Andererseits dient sie als Lebensraum, in dem Menschen mit Sehbehinderung in authentischen Situationen bestimmte Strategien visualisieren, üben und verinnerlichen können. Für den Bereich Low Vision ist sie vor allem ein Vorzeigebeispiel für Barrierefreiheit und zeigt, was alles möglich ist, damit sehbehinderte Menschen ihren Alltag einfacher bewältigen können. Mit dem Projekt wird auf die Problematik der Anpassung der Wohnsituation eingegangen, die ein sicheres Leben in den eigenen vier Wänden gewährleistet. In dieser Wohnung sieht man auch an konkreten Beispielen, wie wichtig die Bereitstellung von medizinischem Material oder Hilfsmitteln zu Hause ist. Schliesslich sollen damit auch die öffentlichen und privaten Partner der Stiftung Blindenheim bei der Entwicklung und Zulassung neuer innovativer Geräte und Dienstleistungen (neue Sehhilfen, Haushaltgeräte, Beleuchtungskonzepte usw.) für sehbehinderte Menschen unterstützt werden.

Beim Betreten der Wohnung fallen mir auf der rechten Seite Schilder mit den sechs allgegenwärtigen Begriffen auf, die auf den Grundprinzipien der Low Vision basieren:

  • Sicherheit: Die Wohnung ist zweckmässig und so sicher wie möglich eingerichtet.
  • Organisation: Eine klare Organisationsstruktur bedeutet für die betroffene Person und ihr Umfeld bei der Bewältigung des Alltags Orientierungshilfe, Behaglichkeit und Sicherheit.
  • Beleuchtung: Die natürlichen und künstlichen Lichtquellen sind mit Blendschutzvorrichtungen ausgestattet, wobei besonderes Augenmerk auf die Leuchten gelegt wird: Eine bedarfsgerechte gleichmässige Umgebungsbeleuchtung sowie zuschaltbare weitere Lampen bei Aktivitäten, die eine höhere Präzision erfordern, sind entscheidend.
  • Kontrast: Die für die Umgebungsgestaltung und in den Materialien verwendeten Farben weisen einen Minimalkontrast von 70% auf.
  • Vergrösserung: Die Vergrösserungsgeräte und grossformatigen Hilfsmittel erleichtern die Aktivitäten des täglichen Lebens.
  • Zusammenspiel der Sinne: Das Zurückgreifen auf andere Sinne hilft, die visuelle Wahrnehmung zu überprüfen und zu ergänzen; gewisse Objekte lassen sich anpassen oder durch sprechende Hilfsmittel ergänzen.

Unsere Besichtigung beginnt im Korridor und in der Diele, wo sich Boden, Fussleisten, Türrahmen und Mauern farblich klar voneinander abheben. Sämtliche Zimmer verfügen über Storen und mit Dimmern ausgestattete Lichtschalter, um die Lichtstärke zu regulieren und so eine Blendung zu vermeiden. Kommunikationshilfsmittel (ein Festnetztelefon mit grossen Tasten, eine Agenda in Grossdruck usw.) ermöglichen es dem Bewohner, sich in einer realen Alltagsumgebung zurechtzufinden.

Danach geht Bild_tactuel_Plattform_2-es weiter in die Küche, in der alles bis ins kleinste Detail durchdacht wurde, um einen völlig barrierefreien Raum zu schaffen. Der Tisch ist bereits gedeckt: Die Farben von Tischtuch, Stühlen und Tellern unterscheiden sich deutlich voneinander, ein Tischeimer ermöglicht es, rasch Kleinabfälle zu beseitigen, und je nach Bedarf lässt sich eine weitere Lichtquelle zuschalten. Das Thema Organisation ist sehr präsent im Raum. In den Schränken wollte man verschiedene bedürfnisgerechte Beschriftungsarten aufzeigen. Um die Gewürze unterscheiden zu können, kann man sie entweder mit ihrem Namen in Grossbuchstaben oder mit einem grossen Anfangsbuchstaben versehen oder man verwendet eine Ton- oder Braillebeschriftung. Auch dem Aspekt Sicherheit wurde in der Küche eine hohe Bedeutung beigemessen. So findet man einen eingelassenen, nicht hervorstehenden Dunstabzug sowie auf den Herdschaltern und an den Rändern der Kochplatten angebrachte tastbare Orientierungspunkte. «Für sehbehinderte Menschen ist es wichtig, bestimmte Handgriffe einzuüben, um Problemsituationen zu entschärfen, die rasch zu Stress führen können», erklärt mir eine Ergotherapeutin der Fondation.

Nun geht es weiter in Richtung Badezimmer, in dem das Licht automatisch bzw. dank eines Bewegungssensors angeht. Man kommt somit kaum mit Strom in Kontakt. In der Badewanne wurden kontrastreiche Antirutsch-Streifen angebracht, und auch die Innenflächen der Regale heben sich farblich deutlich ab. Ein Lichtspiegel mit Vergrösserungseffekt rundet die Zimmereinrichtung ab.

Zum Schluss besichtigen wir noch den Wohnbereich (Wohnzimmer, Schlafzimmer und Büro in einem). Selbst bei den abgerundeten Metallfüssen des Bettes hat man an die Sicherheit gedacht. Auf dem gelben Nachttisch steht eine Leuchte sowie ein Wecker mit Sprachfunktion für die Zeitansage. Die Schränke verfügen über ein integriertes Beleuchtungssystem. In diesem Zimmer können die ErgotherapeutInnen mit den sehbehinderten Personen die Verrichtung von Haushaltstätigkeiten üben: Falten der Wäsche, Bügeln, Staubsaugen usw. Eine Fernseh- und Büroecke komplettiert das Zimmer. Dort findet man neue technische Geräte wie ein mit dem Fernseher verbundenes Tablet, aber auch andere klassischere Hilfsmittel.

Kästchen:

Die Musterwohnung ist Bestandteil eines «Living-Lab», zu dem auch ein sogenannter Beleuchtungs- und Mobilitätsraum gehören. Das Living-Lab der Fondation Asile des aveugles ist Partner des Projekts EIT Health (https://www.eithealth.eu/). Im Rahmen dieses Projekts suchen mehr als 140 europäische Unternehmen nach neuen Lösungen oder Dienstleistungen, die älteren Menschen ein gesundes Leben ermöglichen sollen. Über 50 Living-Labs agieren als Partner innerhalb dieses Innovationsnetzwerks und teilen ihren Erfahrungsschatz, indem sie ihre Dienstleistungen den anderen Akteuren im Netzwerk anbieten.