Reportage zur Aufführung von «La vie parisienne» mit Audiodeskription

Von Carol Lagrange

Mittwoch, 21. Dezember 2016, später Nachmittag: Vor Beginn einer Aufführung der Operette «La vie parisienne» von Jacques Offenbach öffnet das Lausanner Opernhaus 19 blinden und sehbehinderten Menschen mit ihren Begleitpersonen die Türen: für eine Führung mit Berühren der Bühnenausstattung.

Unter der grossen Bahnhofsuhr beginnt die Führung durch die Opernkulissen. Bild: Silvain Chabloz

Die Oper – inklusive Kulissen und Maske – life erleben. Bild: Silvain Chabloz

Die Gruppe mit blinden und sehbehinderten Menschen folgt Laurence Amy und Stéphane Richard durch die Gänge des Lausanner Opernhauses bis hinter die Kulissen und auf die Bühne. Die beiden sind für die Audiodeskription der Aufführung an diesem Abend verantwortlich. Die Führung beginnt mit einer mündlichen Beschreibung des Saales, seiner Masse, der Balkone und des Orchestergrabens. Danach wird die Gruppe dazu eingeladen, die sich auf der Bühne befindenden fünf Holzsäulen und ihre Verzierungen mit den Händen zu erkunden. Das Bühnenbild zeigt den ehemaligen Pariser Bahnhof Gare d’Orsay. Nicht fehlen dürfen da natürlich die riesige Uhr und die Kronleuchter des Bahnhofs. Auf dem Bühnenboden befindet sich auch eine entsprechende Uhr mit zwei sich drehenden Ringen, auf denen die Tänzer ihre Choreografien darbieten werden. Im Bühnenhintergrund gibt es einen Plan der Pariser Metro. Im weiteren Verlauf der «Führung mit Berührung» bekommen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen die Gelegenheit, einige Kostüme der Hauptdarsteller der Operette sowie wichtige Requisiten zu ertasten.

18:30 Uhr – hinter den Kulissen laufen Regisseur, Darstellerinnen und Tänzer hin und her. Das Orchester beginnt, sich einzuspielen. Es ist nun an der Zeit, die Bühne zu verlassen und vor Beginn der Vorstellung noch einen Happen zu essen.

Verständnis und Konzentration stellen eine Herausforderung dar

Für blinde und sehbehinderte Menschen ist das Musikhören eine an sich völlig barrierefreie Aktivität. Doch wie steht es mit der Oper? «Ohne Audiodeskription hätte ich Mühe, einer Oper zu folgen», sagt die blinde Marianne Castella. «Die vielen Handlungen, die sich gleichzeitig abspielen, erfordern eine enorme Aufmerksamkeit. Damit ich einer Vorstellung ohne Audiodeskription folgen könnte, müsste ich die Geschichte kennen. Ich müsste mich vorab informieren, allenfalls das Libretto lesen und meine Begleitperson müsste mir gewisse szenische Details stets umgehend zuflüstern. Musik und Rhythmus helfen zwar, die Handlung zu verstehen, sind aber keinesfalls ausreichend», so Frau Castella. Neben den Verständnisschwierigkeiten müssen sich blinde und sehbehinderte Menschen auch übermässig konzentrieren, um dem Handlungsablauf folgen zu können.

19:00 Uhr – wir befinden uns in einem Salon des Opernhauses in entspannter und geselliger Atmosphäre. Unsere Gruppe beendet in aller Ruhe den Apéro, der vor Ort offeriert wird, und begibt sich dann mit Kopfhörern und Eintrittskarten in Richtung Zuschauerraum. Nachdem es sich die Besucherinnen auf ihren Sitzen bequem gemacht haben, schliessen sie ihre Kopfhörer an. «Jacques Offenbachs Opera buffa ist in vier Akte gegliedert und wurde im Hinblick auf die Pariser Weltausstellung von 1867 komponiert», ertönt es aus den Kopfhörern. Darauf folgen weiterführende Informationen zu Bühne, Handlung, Darsteller und künstlerischer Leitung. Inzwischen füllt sich der Raum zusehends – bis auf den letzten Platz.

19:30 Uhr – der Gong ertönt, die Lichter gehen aus, der Vorhang hebt sich mit der Musik und enthüllt ein geschäftiges Treiben im Gare d’Orsay. Die Audiodeskription beginnt: Es folgen Informationen zu Bewegungen, Bühnenbildern, Kostümen und dem Verhalten der Darstellerinnen – sämtliche Eindrücke und Szenen müssen ganz rasch, in wenigen Worten, aber dennoch korrekt wiedergegeben werden.

Ein noch neues und komplexes Verfahren

Tänzer und Tänzerinnen in Abendkleidern werden von buntem Licht bestrahlt.

„La vie parisienne“: Spektakel auf der Bühne. Bild: Silvain Chabloz

Bei der Audiodeskription einer Oper handelt es sich um ein recht neues Verfahren. In Frankreich wurde 1993 zum ersten Mal eine Oper mit Audiodeskription aufgeführt; in der Schweiz im Jahr 2012. Derzeit bieten zwei Westschweizer Organisationen diese Dienstleistung an: Dire pour Voir für die Region Genf und Ecoute Voir für die übrige Westschweiz. In der Deutschschweiz gibt es aktuell noch keine Opernaufführungen mit Audiodeskription. Ecoute Voir plant jedoch, demnächst einen Lehrgang für Audiodeskription mit zweisprachigen Teilnehmerinnen anzubieten.

Die Audiodeskription einer Oper ist eine ziemlich komplexe und zeitaufwändige Angelegenheit. «Eine Minute Vorstellung entspricht normalerweise einer Stunde Arbeitsaufwand. Für die Audiodeskription der heute Abend gezeigten Operette benötigten wir im Zweierteam rund 140 Stunden. Bei unserer Tätigkeit müssen wir uns auch mit dem künstlerischen Ensemble auseinandersetzen, die Entscheidungen des Regisseurs verstehen, um unserer Audiodeskription Feinschliff zu verleihen, sowie auf die jeweilige Dauer der Einsätze von Darstellern und Musikerinnenn achten», erklärt Stéphane Richard, der für Ecoute Voir tätig ist. Am Schluss ihrer Arbeit besuchen die Verantwortlichen für die Audiodeskription noch eine oder zwei Proben, um gegebenenfalls Textstellen anders zu platzieren oder den Inhalt anzupassen.

22:15 Uhr – die Vorstellung endet in einem farbenprächtigen Finale, untermalt durch eine heitere Darbietung der Choristen, Tänzerinnen und Hauptdarstellerinnen. Ausser Atem und unter tosendem Applaus tritt der Dirigent auf die Bühne. Die Künstlerinnen verneigen sich mit strahlenden Gesicht vor dem Publikum. Der Vorhang fällt. Aber wie hat es unseren Zuschauern gefallen? «Ich liebe es zu applaudieren. Der Chorgesang hat mir sehr gefallen. Die Musik war mitreissend, fröhlich und hat richtig gute Laune gemacht», so die sehbehinderte Pierette Grosjean. «Ohne die durch Ecoute Voir organisierte Audiodeskription wäre ich nie hierhergekommen. Nach einer solchen Aufführung bin ich jeweils ganz erschöpft, doch die Erfahrung ist es allemal wert. Darüber hinaus ist das eine gute Gelegenheit, mal raus zu kommen, nette Leute zu treffen, und vor allem muss man seine Behinderung nicht erklären.» Auch die hörsehbehinderte Muriel Siksou freut sich, dass sie in den Genuss der Veranstaltung in diesem wunderbaren Rahmen gekommen ist und am kulturellen Leben von Lausanne teilhaben konnte: «Die Musik hat mich berührt und mir die von Heiterkeit und Sorglosigkeit geprägte Stimmung in dieser Operette gut vermittelt.»

Voller Begeisterung machen sich Frau Grosjean, Frau Castella, Frau Siksou sowie die anderen sehbehinderten und blinden Personen der Gruppe auf den Heimweg. Das Erlebnis wollen sie bald wiederholen. Corinne Doret Bärtschi ihrerseits befasst sich bereits mit der Planung einer Oper auf Italienisch mit Audiodeskription im Jahr 2017 und möchte den Interessierten die Möglichkeit geben, sich darauf vorbereiten zu können. Die Audiodeskription für dieses Werk wird dann wohl über 100 Arbeitsstunden in Anspruch nehmen.