Drei abgestufte Bänder, die auf einen nackten weiblichen Torso geklebt werden und über Brüste und Brustwarzen verlaufen, ermöglichen es den medizinischen Tastuntersuchern (MTU), sich genau zu orientieren.
Braillebeschriftete Massbänder sind wichtige Anhaltspunkte. / Bild: discovering hands

2017 hatte sich die Redaktion von tactuel mit der discovering hands®-Methode befasst – eine aus Deutschland stammende Methode zur taktilen Brustkrebsvorsorge durch blinde und sehbehinderte Frauen. 2020 startete der Verein pretac+ in der Schweiz mit dem ersten Ausbildungsgang für Manuell-Taktile Untersucherinnen (MTUs). Nachfolgend ein Überblick über diese einzigartige Ausbildung.

von Carol Lagrange

Jedes Jahr erkranken in der Schweiz 6’200 Frauen an Brustkrebs; etwa 1’400 sterben daran. Nicht der Tumor selbst ist gefährlich, sondern seine Ausbreitung im Körper. Deshalb ist Früherkennung so wichtig: Wenn bösartige Veränderungen in der Brust dank einer guten Vorsorgeuntersuchung rechtzeitig erkannt werden, lässt sich mittels Behandlung eine weitere Ausbreitung verhindern. Das Mammografie-Screening wird Frauen in der Regel aber erst ab dem 50. Altersjahr angeboten. Die Tastuntersuchung ist jedoch Kernbestandteil der Brustkrebsvorsorge für alle Frauen.

Basierend auf dieser Erkenntnis entwickelte der deutsche Gynäkologe Frank Hoffmann eine neuartige Methode namens discovering hands®, bei der blinde und sehbehinderte Frauen zu Manuell-Taktilen Untersucherinnen (MTUs) ausgebildet werden. Die MTUs werden im Rahmen der Brustkrebsfrüherkennung eingesetzt und können diese durch ihre besonderen Tastfähigkeiten nachhaltig verbessern. Die Taktilografie hat viele wissenschaftlich belegte Erfolge vorzuweisen: So ertasten MTUs rund 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen als Ärzt/-innen. Mit diesem neu geschaffenen Beruf möchte man die besonderen Fähigkeiten dieser Frauen zum Tragen bringen, damit sie diese für die eigene Vorsorge nutzen und auch Ärztinnen und Ärzte bei ihrer Arbeit unterstützen können.

discovering hands® in Genf

Da der Verein pretac+ von dieser innovativen Methode und ihrer Bedeutung überzeugt ist, hat er beschlossen, auch in der Schweiz eine entsprechende Ausbildung anzubieten. In Genf läuft derzeit ein Pilotprojekt, bei dem zwei MTUs für die ergänzende Brustuntersuchung ausgebildet werden. Der Ausbildungsgang startete im Mai 2021 und wird im Februar 2022 mit einer theoretischen Prüfung abgeschlossen. Seit Oktober 2021 üben die Teilnehmerinnen das Abtasten an Freiwilligen im Rahmen von spezifischen Trainingseinheiten. Vor der Abschlussprüfung ist ferner ein dreimonatiges Praktikum in einem Spital, einer Klinik oder einer gynäkologischen Praxis zu absolvieren, während dem 100 Tastuntersuchungen durchgeführt werden müssen.

Um diese Ausbildung machen zu können, mussten die beiden MTUs im Vorfeld sowohl auf ihre IT-Kenntnisse wie auch auf ihre Konzentrationsfähigkeit, ihr Erinnerungsvermögen und natürlich ihre taktilen Fähigkeiten geprüft werden. Die Trainer Martial Robellaz und Guillermina Chaillou wurden ihrerseits in Deutschland von Grund auf in der discovering hands®-Methode ausgebildet.

Im theoretischen Teil der Ausbildung erwarben die Teilnehmerinnen Kenntnisse in den Bereichen Anatomie, Physiologie, Gynäkologie und Senologie. Sie lernten auch, wie das Schweizer Gesundheitssystem funktioniert, absolvierten einen Erste-Hilfe-Kurs und befassten sich mit den Themen Infektionsschutz, Kommunikation und Teamarbeit. Im praktischen Teil übten sie das Erheben einer Anamnese am Computer, das Abtasten der Lymphknoten sowie das Anbringen von fünf taktilen Orientierungsstreifen mit Zentimetermarkierungen in Braille (einer im Bereich des Brustbeins, zwei über der Brust sowie zwei an der Seite), anhand derer die Brust nach der discovering hands®-Methode in drei Tiefenschichten zentimeterweise abgetastet wird. Diese Untersuchung dauert rund 60 Minuten und wird selbstständig durchgeführt.

«Wir sehen mit unserem Tastsinn»

Diese taktile Untersuchungsmethode ist eine Ergänzung zu den anderen Methoden der Brustkrebsvorsorge und zeichnet sich durch eine höhere Gründlichkeit im Vergleich zur gynäkologischen Tastuntersuchung aus. Wenn MTUs eine Gewebeveränderung feststellen, vermerken sie diese mithilfe des Orientierungsstreifens. Danach besprechen sie sich mit dem Arzt / der Ärztin, der/die das Ergebnis überprüft und mit der Patientin bespricht. «Wir sehen mit unserem Tastsinn», so Suzanne, Teilnehmerin am ersten Ausbildungsgang in Genf. Suzanne ist auf beiden Augen nahezu blind und erzählt, dass sie zwar die Dinge visuell nicht vollständig erfassen könne, jedoch in der Lage sei, mithilfe ihrer Finger Details besser als andere zu «sehen». «Ich achte auch stärker auf den Klang der Stimme der Patientinnen und kann leicht erkennen, ob jemand beunruhigt ist oder sich wohlfühlt.» Marzia, eine andere Teilnehmerin, die seit ihrem fünften Lebensjahr blind ist, erklärt, dass sie dank dieser Ausbildung endlich einer Arbeit nachgehen könne. Auch wenn sie seit ihrer Kindheit bestens mit der Brailleschrift vertraut ist und über eine ausgeprägte taktile Sensibilität verfügt, war die Ausbildung für sie nicht immer einfach. Oft musste sie auf Reliefzeichnungen zurückgreifen, um bestimmte anatomische Formen nachvollziehen zu können.

Zukunft der Methode in der Schweiz

Nach Abschluss der Ausbildung müssen die MTUs ihr Können während sechs Monaten auf selbstständiger Basis in einer gynäkologischen Praxis, einem Spital oder einer Klinik in Genf oder Lausanne unter Beweis stellen. Mit diesem sechsmonatigen Einsatz kann die Ausbildung offiziell von Discovering Hands Deutschland genehmigt und schliesslich ein weiterer Ausbildungsgang lanciert werden. Der Verein pretac+ muss nun auch mit den Behörden klären, ob und wie diese Früherkennungsmethode von den Krankenkassen übernommen werden kann. In Deutschland arbeiten derzeit 80 sehbehinderte oder blinde Frauen selbstständig in Praxen, und deren Leistungen werden von den meisten Krankenkassen und den privaten Zusatzversicherungen erstattet.