Barrierefreiheit von Grund auf gedacht

Die Blindenschule Zollikofen, die Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde und die obvita, realisierten im Jahr 2019 jeweils einen Neubau. Alle drei Einrichtungen sind in den letzten Jahren stark gewachsen und mussten seit geraumer Zeit mit Raumlösungen klarkommen, die wenig an die Situation ihrer Klientinnen und Klienten angepasst waren. Nun erlaubte die Neuplanung, Barrierefreiheit von Grund auf zu denken.
Von Nina Hug

Blindenschule Zollikofen

Farblich gekennzeichnete Stockwerke sind ein Orientierungsmerkmal des Neubaus in Zollikofen. Auch die Akustik wurde über die Deckenhöhe und Gestaltung beeinflusst.

In der Blindenschule Zollikofen hat sich die Schülerschaft in den letzten 20 Jahren sukzessive gewandelt. Die Zahl der blinden und sehbehinderten Kinder mit mehrfachen Behinderungen hat in diesem Zeitraum fast im selben Mass zugenommen, wie die Zahl der Kinder im Regelschulbereich abgenommen hat. Daraus leiten sich andere Bedürfnisse ab – nebst Barrierefreiheit in Bezug auf die Sinnesbehinderung ist auch Rollstuhlgängigkeit und Flexibilität in der Einrichtung der Gebäude gefragt. Der Neubau ersetzt zwei alte Wohngruppenhäuser und schafft zusätzlich Kapazität für die Verschiebung von zwei Wohngruppen aus dem Hauptgebäude. Damit erhält die Schule für mehrfachbehinderte Kinder den dringend benötigten zusätzlichen Raum im Hauptgebäude. Eine Tagesschule mit Mittagstisch und ein neues Therapiebad ergänzen das Raumangebot des Neubaus. Der Neubau ist so platziert, dass die Schülerinnen und Schüler der Wohngruppen direkten Zugang zum Schulhaus haben.
Jedes Kind mit einer Sinnesbehinderung und insbesondere solche mit mehrfachen Behinderungen haben ganz individuelle Herausforderungen. Der Grad ihrer Selbständigkeit kann sich stark unterscheiden. Ziel war es, so zu bauen, dass sowohl das Personal in seiner Arbeit unterstützt wird, wie auch die Kinder dem Grad ihrer Selbständigkeit angepasste Bedingungen vorfinden. So wurden höhenverstellbare Lavabos, Toiletten und Küchenzeilen eingerichtet.
Das Farbkonzept zur visuellen Orientierung wurde direkt mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet. So erhielt jede Wohngruppe ihre eigene Farbe für die Eingangstüre und Garderobe. Jedes sehbehinderte Kind erkennt also gleich am Farbton, ob es sich im richtigen Stockwerk befindet. Weitere Orientierungspunkte wie Boden, Wand, Geländer wurden farblich kontrastreich gestaltet.
Nebst dem Farbkonzept wurde die Materialisierung so angepasst, dass andere Sinne angesprochen werden. „Akustisch haben wir darauf geachtet, dass die Räume sich vom Klang her unterscheiden. So haben wir mit unterschiedlichen Deckenhöhen gearbeitet“. Als taktiles Element ändert die Beschaffenheit der Bodenbeläge je nachdem wo man sich aufhält. Bevor man zum Beispiel ins Freie tritt, führt der Weg über einen weichen Schmutzschleusenteppich.
Eine Wohngruppe durfte bereits einziehen. „Es ist schön zu sehen, dass das Gebäude für die Menschen, mit denen wir gemeinsam geplant haben, funktioniert“, erklärt Marion Heinzmann.

Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde

Ein Flur mit einem Handlauf, darüber ein Betonrelief, das taktile Orientierung bietet.

Im Neubau der Tanne wurde jedes Gechoss mit einem Betonrelief versehen, das tacktile Orientierung bietet.

Die Tanne ist ursprünglich für sehr viel weniger Klientinnen und Klienten gebaut worden, als in den letzten Jahren aufgenommen wurden. Zudem hat man in den 1980er Jahren für Fussgängerinnen und Fussgänger geplant. Heute hat die Tanne, ähnlich wie Zollikofen, immer mehr Klientinnen und Klienten mit Hörsehbehinderung, die auch eine Mehrfachbehinderung und motorische Einschränkungen haben.
Auch benötigen die Kinder und Jugendlichen, die als Abgängerinnen und Abgänger die Tanne-Schule verlassen, in den Erwachseneneinrichtungen weiterhin einen Platz. Dieser Bereich wächst also von Jahr zu Jahr.
Um diesem Platzbedarf und den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten gerecht zu werden, hat die Tanne zwei Neubauten – ein Schulgebäude und ein Wohngebäude – realisiert, die sich als Ort der Sinne durch adäquate Akustik und Beleuchtung sowie durch eine taktile Vielfalt der Materialien auszeichnen.
Damit haben nun 51 Klientinnen und Klienten im Erwachsenenbereich, 24 Schülerinnen und Schüler in der Tagesschule oder im Wocheninternat, die Früherziehung, 2 Kita-Gruppen und die Beratung & Unterstützung Platz. Zudem entstanden ein öffentliches Café und der Tanne-Laden, in dem die Arbeiten des Ateliers verkauft werden.
Es gibt Bauempfehlungen und Normen für sehbehinderte, für hörbehinderte und für mobilitätseingeschränkte Menschen. Es gibt aber keine Normen für Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit und zusätzlichen kognitiven Einschränkungen. Und dennoch haben diese Menschen ganz spezifische Bedürfnisse. Eine Tür, die zum Beispiel für Rollstuhlfahrer breit genug ist, wird entsprechend schwer und ist dann für Menschen mit wenig Kraft nicht zu öffnen. „Es ging darum, nicht additiv die Normen umzusetzen, sondern der Lebenswelt der hörsehbehinderten Klientinnen und Klienten entsprechend einen architektonischen Wurf zu machen“, erklärt Mirko Baur, Gesamtleiter der Tanne.
Um die Neubauten als Ort der Sinne zu gestalten, wurde mit einem Kontrastkonzept gearbeitet. Die beiden Neubauten sind im Kern aus Beton, die Zimmer in Holz gestaltet. Diese zwei Materialien geben sowohl von ihrer Helligkeit her als auch von der Akustik her bereits eine Orientierung und unterscheiden sich taktil. So weiss man immer ob man sich im Treppenhaus befindet oder in den Räumen. Auch unterscheidet sich das im Beton eingelassene Wandrelief von Stockwerk zu Stockwerk, so dass auch diese taktil markiert sind. „Auch bei der Beleuchtung haben wir mit unterschiedlichen Helligkeiten und Ausleuchtungsgraden gearbeitet – in den Schulzimmern mehr Licht, in den Aufenthaltsbereichen weniger“, erläutert Mirko Baur. Akustisch gesehen, haben die Schulzimmer einen Nachhall von 0,4 Sekunden, im Café hingegen sind es 0,7 Sekunden. So unterscheiden sich die Räume auch atmosphärisch.
Im Farbkonzept wurden Farbfamilien und eine zurückhaltende Farbigkeit gewählt mit unterschiedlichen Helligkeitsausprägungen. So werden im Schulgebäude Grüntöne verwendet, im Wohngebäude Rottöne. Ein weiteres Orientierungsmerkmal sind die Gerüche. Im Schulgebäude befindet sich im Erdgeschoss das Café, in dem es nach Kaffee und Backwaren riecht. Im Wohngebäude ist die Wäscherei untergebracht, so dass es hier nach frischer Wäsche riecht.
Alle diese Elemente zusammen erschaffen einen Ort, der Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten unterstützt. „International haben wir auf unseren Bau sehr positive Resonanz erhalten“, ist Mirko Baur stolz.

Obvita

Bei obvita in St. Gallen entsteht ein Kompetenzzentrum für sehbehinderte und blinde Menschen. Hier finden ab Frühjahr 2020 unter anderem die Berufsschule, die Abteilung Sehberatung und berufliche Integration sowie Schulungsräume, ein Hilfsmittel-Showroom, die Low Vision Abklärung und eine Kantine Platz. „So können wir unsere Dienstleistungen zentralisieren und alle Bereiche zusammen zu führen, die bisher in Mietwohnungen in der Stadt ausgelagert waren“, erklärt Paul Moser, Bereichsleiter Immobilien, das Ziel des Baus.
Hinsichtlich Barrierefreiheit möchte die obvita dem Namen des Kompetenzzentrums Ehre machen. So soll ein lückenloses Leitsystem für die sehbehinderten und blinden Besucherinnen und Besucher des Hauses gelingen. Das fängt bei der Bushaltestelle an und geht bis hin zum Auffinden der Räume oder der Lichtschalter darin.
Vor dem Gebäude orientiert eine taktile Tafel die Besucher über den Plan des gesamten obvita-Geländes. Gelangt man dann zum Eingangsbereich wird man akustisch empfangen. Hier befindet sich auch ein Welcomedesk, der permanent besetzt ist.
Im Innenbereich ist ein Navigationssystem via Smartphone vorgesehen. Eine App, die über i-beacons mit Informationen zu den Räumen und Gängen versorgt wird, führt den Besucher durch das Haus. Das Berufsförderungswerk BfW in Würzburg wurde mit der Umsetzung dieses Besucherleitsystems beauftragt.
Das Farb- und Kontrastkonzept schafft Erkennbarkeit zwischen Wand zu Boden, Durchgänge in den Wänden, Flächen zu Stufen. Im Haupttreppenhaus werden beleuchtete Handläufe eingesetzt, somit sind auch diese Leitlinien nutzbar. Aus den Bauten der letzten Jahre habe man einiges gelernt. „Zum Beispiel setzen wir jetzt in der Kantine um, dass sich Teller und Tisch kontrastieren und sich so besser erkennen lassen“, sagt Paul Moser.
Grundsätzlich habe man sich an den Vorschriften der Fachstelle Hindernisfreie Architektur orientiert, aber zu einigen Dingen müsse man sich selber Gedanken machen, weil es da gar keine Vorschriften oder Umsetzungsvorschläge gebe. Zum Beispiel dazu, wie die Türen am besten angeschrieben werden und der Lichtschalter gut aufzufinden ist. Da das Gebäude erst 2020 bezogen wird, sind hierzu noch keine Entscheide gefällt.