Der 55-jährige Lenthe Basant kommt mit digitalen Hilfsmitteln nicht nur selbst gut zurecht, sondern sorgt bei der Migros dafür, dass die eigenen Apps und der Online-Auftritt auch für andere Menschen mit einer Behinderung nach offiziellen W3C Accessibility Guidelines funktionieren. Ein Gespräch über seinen Job als Customer Experience Specialist, analoge und digitale Hilfsmittel und die Wichtigkeit von Barrierefreiheit.

Das Interview führte Michel Bossart

Lenthe Basant sitzt am Computer. Vor ihm befindet sich eine Braille-Zeile.
Lenthe Basant überprüft die Barrierefreiheit. Foto: Gian Marco Castelberg

tactuel: Herr Basant, Sie sind bei der Migros dafür verantwortlich, dass die Webseite und die Apps auch für Sehbehinderte zugänglich sind. Wie sieht es aus: Haben Menschen mit einer Sehbehinderung heute gleich guten Zugang zu den digitalen Inhalten wie Sehende?

Lenthe Basant: Nein, obwohl vieles natürlich schon viel besser als früher ist. Aber von einer Gleichstellung kann man noch nicht sprechen.

Können Sie Beispiele nennen?
Ticketbuchung für Events zum Beispiel. Oder digitale Informationen auf Public Screens: Diese könnte man für uns zugänglicher machen.

Was ist für Sie eine gute Customer Experience?
Ich war kürzlich in den Niederlanden in einem Restaurant. Wenn man den QR-Code auf dem Tisch scannte, wurde man sofort mit der Webseite verbunden, auf der man die Bestellung aufgeben konnte, die dann an den richtigen Tisch geliefert wurde. Ich fand das sehr innovativ und gut umgesetzt!

Gerade im Haushalt können heute viele Geräte mit einer App gesteuert werden. Dazu braucht es aber einen Screenreader. Wäre es nicht sinnvoller, direkt eine Sprachausgabe in die Geräte einzubauen?
Es wäre utopisch schön, wenn alle elektronischen Geräte eine eigene Sprachausgaben hätten. Unsere Zielgruppe ist aber zu klein und darum bleiben die Geräte stumm. Heute können viele Geräte mit einer App gesteuert werden. Doch leider sind die Apps nicht oder nicht gut genug zugänglich für alle. Die Lösung lautet darum, die Apps für alle zugänglich zu gestalten.  

Sie persönlich bekunden mit der Digitalisierung also keine Mühe…
Wenn ich ehrlich bin, mag ich Geräte mit Knöpfen zum Drehen schon lieber. Dann versteht man sofort, was passiert. Doch solche Geräte werden wohl langsam aussterben. Grundsätzlich bereitet mir die zunehmende Digitalisierung aber keine Schwierigkeiten. Ich bin ja schliesslich Informatiker (lacht). Apps an sind wie eben gesagt auch gar nicht das Problem. Es ist die Nichtzugänglichkeit einiger Apps für Menschen mit einer Behinderung, die problematisch ist. Ein gutes Beispiel einer gelungenen App ist diejenige der SBB: Sie ist für Sehende, Sehbehinderte und auch für Menschen mit einer Taubblindheit zu 99 Prozent zugänglich.

Wie reagieren Sie, wenn Ihnen der Screenreader etwas vorliest, das keinen Sinn ergibt?
Dann lass ich es mir langsamer vorlesen oder notfalls auch buchstabieren. Wenn es immer noch unklar ist, kann ich es auch auf der Braillezeile nachlesen.

Wenn das bei einem Migros-App passiert: Was tun Sie dann?
Die barrierefreie Zugänglichkeit besteht aus drei Teilen. Erstens: Kann ich ein Item (CTA) überhaupt wahrnehmen? Zweitens: Wenn ich es wahrnehmen kann, verstehe ich, was gemeint ist. Und zum Schluss: Kann ich das Item bedienen. Wenn ich bei der Migros etwas entdecke, das nicht klappt, dann eruieren wir gemeinsam mit dem Entwicklerteam das Problem und lösen es.

Sind Sie Teil dieses Entwicklerteams oder testen Sie die Applikationen erst nach deren Einführung?
Bei Neuentwicklungen bin ich von Anfang an dabei und leiste meinen Teil, damit diese barrierefrei werden. Das mache ich mittlerweile bereits seit 15 Jahren mit einem 40-Prozent-Pensum.

Wie muss man sich einen «gewöhnlichen» Arbeitsalltag von Ihnen vorstellen?
Nicht anders als bei anderen Informatikern auch: Ich beantworte Mails, teste Apps oder Webseiten, nehme an Meetings teil oder Termine wahr.

Erhalten Sie als Customer Experience Specialist auch direkte Rückmeldungen von Kundinnen und Kunden?
Wenn, dann werden sie mir von der Migros-Infoline weitergeleitet. Öfters erhalte ich allerdings jobrelevante Feedbacks direkt von Personen aus meinen eigenen Netzwerken.

Gibt es etwas, über das Sie sich in Bezug auf Hilfsmittel regelmässig ärgern?
Nicht über die Hilfsmittel an sich, sondern über die Programmierer, die bei der Entwicklung nur an den üblichen User denken und andere Zielgruppe komplett vergessen.

Worin unterscheidet sich Ihr Leben mit einer Sehbehinderung am meisten?
Das Leben mit irgendeiner Art von Behinderung muss komplett anders organisiert werden.

Wie meinen Sie das?
Wenn ich einkaufen gehe oder mich überhaupt von A nach B bewege, bin ich auf andere Menschen angewiesen. Spontan nach der Arbeit joggen gehen, weil ich gerade Lust darauf habe, das geht nicht. Ich muss alle meine Aktivitäten im Voraus organisieren und bin dabei auf gut funktionierende Hilfsmittel und vor allem auf andere Menschen angewiesen.

Zum Schluss: Wie empfinden Sie die Schweiz in Bezug auf die Barrierefreiheit?
In gewissen Bereichen sehr gut: Im Öffentlichen Verkehr zum Beispiel. Allerdings ist der Schweizer ÖV im Vergleich zum ÖV in anderen Ländern so oder so sehr gut. In Bezug auf Barrierefreiheit finde ich, sind die USA um einiges weiter als wir hier. Aber das soll sich ja bald ändern, denn ab diesem Jahr müssen alle online-Auftritte von Behörden und wichtigen Infrastrukturen von Gesetztes wegen zugänglich für alle sein. Ab 2025 dann die Auftritte von allen anderen online -Anbietern ebenfalls.