Handlungskompetenz im Fokus einer komplexen Reha-Disziplin

Lebenspraktische Fähigkeiten ist eine (Re-)Habilitationsdisziplin, die implizit wohl schon immer Anwendung fand in der Arbeit mit blinden und sehbehinderten Menschen. Seit den 90er Jahren hat sich die Disziplin in der Schweiz professionalisiert. Was sich seither geändert hat, wollte tactuel von Barbara Fischer wissen.

Von Nina Hug

Frau Fischer, was beinhaltete das erste Curriculum LPF?

Die damaligen Kernthemen sind vergleichbar mit jenen der heutigen Ausbildung. Sie behandelten neben fachübergreifenden Themen, beispielsweise aus der Augenheilkunde, der Audiologie und der Psychologie fachspezifische Inhalte aus den Bereichen der Kommunikation, der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) und  des Führens eines Haushalts.

Im Bereich der Kommunikation wurde viel Zeit auf das Erlernen der Handschrift mit entsprechenden sogenannt blindengerechten Kriterien, einer korrekten Griffhaltung, Aufbau der Handkoordination usw. aufgewendet. Das Schreiben und Lesen der Braille Basisschrift wurde geübt und das methodisch didaktische Vorgehen vermittelt.  Die Telefonie war im Umbruch, Tastentelefone setzten sich durch. Als Tonträger waren Tonbandkassettengeräte in Verwendung, CD-Player galten als modern, hatten jedoch für blinde Menschen ihre Tücken.  Es war technisch gesehen eine ganz andere Zeit als heute.

Zu den Inhalten des Bereichs der Aktivitäten des täglichen Lebens zählten und zählen auch heute noch Essen, Körper- und Gesundheitspflege, sich Ankleiden, der Umgang mit Bargeld und Kreditkarten und die Terminverwaltung (damals mit Hilfe von Braillenotizen, Diktiergeräten).

Und auch im Bereich Haushalt Führen sind die Inhalte ähnlich geblieben, haben sich aber an den technischen Fortschritt angepasst. Nach wie vor geht es ums Kochen, den Umgang mit Lebensmitteln, Reinigung und Hygiene, das Handling von Haushaltgeräten und deren sehbehindertenspezifische Anpassung – mit all ihren erforderlichen Teilschritten, kleinsten Handlungen, um dies letztendlich selbständig zu bewältigen.

Was hat sich gegenüber dem ersten Curriculum denn bis heute verändert?

Die grösste Veränderung hat aus meiner Sicht in der Herangehensweise stattgefunden – in der Art und Weise, wie etwas gelehrt wird und welche Prioritäten gesetzt werden. Im Umgang mit Hilfsmitteln hat der technische Fortschritt grosse Veränderungen gebracht. Und unsere Zielgruppe hat sich erweitert.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein Beispiel aus dem Bereich der ATL, Thema Essensfertigkeiten: Wurde früher der Fokus auf akkurate blindengerechte Techniken und deren Vermittlung gelegt (alle lernten mehr oder weniger dieselbe Technik), steht heute die Klientin, der Klient im Mittelpunkt. Inwiefern Finger als Esswerkzeug dienen dürfen, Finger und einzelne Besteckteile kombiniert werden oder strikt nur mit Messer und Gabel gegessen wird, hängt von vielen Faktoren ab – beispielsweise vom sozialen Umfeld, vom ethnischen Hintergrund, von situativ unterschiedlichen Ansprüchen an die eigene Perfektion.

So ist das Ziel und wichtiger Schulungsinhalt der Ausbildung zur LPF Fachperson heute, die Bedürfnisse, Vorerfahrungen und Fähigkeiten unserer Klientinnen und Klienten zu evaluieren und Menschen mit Sehbeeinträchtigung dabei zu unterstützen, für sie und ihr Umfeld stimmige Essensfertigkeiten zu entwickeln.

Worauf kommt es dann bei der Ausbildung der LPF Lehrpersonen an?

Die Ausbildung stellt hohe Anforderungen an Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer.  Sie benötigen einschlägige praktische Vorerfahrung, eine abgeschlossene Ausbildung in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Soziales.

Breit gefächertes rehabilitatives Fachwissen ist gefordert. Im sogenannten Grundlagenmodul wird dies fachrichtungsübergreifend vermittelt bzw. aufgefrischt. In der Spezialisierung auf die Fachrichtung LPF lernen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer, worauf es bei den einzelnen Tätigkeiten ankommt, sie erarbeiten sich Handlungskompetenzen in den Alltagsverrichtungen ohne visuelle Kontrolle. Sie erlernen unterstützende Techniken, müssen ihre eigenen Vorerfahrungen/ Bedürfnisse und Ansprüche an Perfektion hinterfragen.  Sie lernen, genau zu beobachten, gezielt unterstützend zu fragen, um einerseits die Bedürfnisse ihres Gegenübers zu erfassen, und auch um zu erkennen, welche unterstützenden Massnahmen/ welche Tipps den Klientinnen und Klienten zu welchem Zeitpunkt des Handlungsablaufs in ihrem oder seinem Tun fördern.

Gibt es auch Inhalte des Curriculums, die komplett verschwunden sind?

Die Arbeit mit dem Optakon, einem Hilfsmittel aus dem Bereich der Kommunikation, das mit Hilfe einer Handkamera Text in tastbare Reliefschrift umwandelt, ist heute ein Museumsstück. Mühsame Tastübungen wurden obsolet.

Im Bereich der Gesundheitspflege hat sich die Kontrolle des Blutzuckerwerts, die Dosierung des Insulins  dank technischem Fortschritt stark vereinfacht.

Für blinde Diabetiker und auch angehende LPF-Fachpersonen war es eine Herausforderung, diese sehr komplexe Tätigkeit  ohne sehende Kontrollmöglichkeit zu erlernen:  sich am Finger zu stechen – einfach,  einen ausreichend grossen Bluttropfen an der Spitze des Teststreifen zu platzieren – schon schwieriger, den Teststreifen in das Messinstrument ohne Kontamination einzuführen – sehr herausfordernd,  und anschliessend  das Insulin zu dosieren – mit einer Spritze nur mit Dosierschiene möglich, sich die Spritze, den Pen zu setzen – der einfachste Schritt.

Blinde insulinabhängige Klientinnen und Klienten haben nun mehrheitlich einen am Oberarm implantierten Sensor, der den Blutzucker kontinuierlich misst und dessen Werte per kleinem portablem Lesegerät oder per Handy App abrufbar sind. Das langwierige Erlernen, Blutzucker ohne visuelle Kontrolle zu messen, ist in der Regel nicht mehr nötig. Die Bedienung des Lesegeräts oder der Handy App mit einer Spracherkennungssoftware ist heute Schulungsinhalt.

Lebens-praktisch: in diesem Wort steckt viel drin. Wie geht die Disziplin mit der Vielfalt an Bedürfnissen von Klientinnen und Klienten um?

Dies ist eine grosse Herausforderung, der man mit der Orientierung des Lehrplans an Aufgaben der Berufspraxis/ an Handlungskompetenzen und dem modularen Aufbau der heutigen Ausbildung versucht, weitgehend Rechnung zu tragen. Methodisch-didaktisch wird via exemplarisches Arbeiten vorgegangen. Es werden Strategien und Fertigkeiten vermittelt, die immer wieder auch auf neue Herausforderungen übertragen werden können.  Fachpersonen lernen Aufgaben, und Handlungen zu analysieren, blindenspezifische Herausforderungen zu erkennen und Lösungsstrategien zu entwickeln.  Eine wichtige Rolle spielt die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit.

Wie äussert sich der Umgang mit der Vielfalt der Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten im Alltag der Fachpersonen?

Dies fordert von uns ein hohes Mass an Flexibilität und die Bereitschaft, uns weiterzubilden. Der Fachbereich der elektronischen Hilfsmittel ist hier ein gutes Beispiel: Betriebssysteme bieten zwischenzeitlich standardmässig Anpassungsmöglichkeiten und Bedienungshilfen für Menschen mit funktionell eingeschränktem/ ohne Sehvermögen.

LPF-Fachpersonen benötigen heute grundlegende PC-Kenntnisse und Neugierde bei technischen Neuerungen am Ball zu bleiben. Etwa 2/3 der LPF-Fachpersonen haben bereits eine Zusatzqualifikation als Smartphone- und Tablet Lehrperson.

Elektronische Hilfsmittel kommen auch beim Training von Orientierung und Mobilität zum Einsatz oder bei Low Vision Trainings. Wie spielen diese Disziplinen zusammen?

Grundlegendes Wissen über elektronische Hilfsmittel ist heute in allen 3 Disziplinen erforderlich. Es ist jedoch ein sehr schnelllebiger Bereich – wir müssen Schwerpunkte setzen. Wissensaustausch – gegenseitige Unterstützung/ die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind wichtig.