Dass Nils Sommer kein räumliches Vorstellungsvermögen hat, merkte die Familie schon früh. Noch vor dem Kindergarten wurde erstmals der Verdacht auf CVI geäussert und später bestätigt. Abgesehen davon, dass Nils Kleingedrucktes schlecht lesen kann und Geometrie für ihn schwierig ist, meistert der 13-Jährige seinen Alltag ohne grössere Beeinträchtigungen.

Das Bild zeigt einen Jungen am Schlagzeug
Nils Sommer hat gelernt mit den Symptomen von CVI umzugehen und ist im Alltag kaum eingeschränkt. / Bild: zVg

Von Michael Bossart

Familie Sommer hatte Glück. Noch bevor Sohn Nils in den Kindergarten kam, wussten die Eltern bereits, dass er die Beeinträchtigung CVI (Cerebral Visual Impairment) hat. Mutter Cécile Sommer erzählt: «Am Anfang haben wir nichts wahrgenommen. Zwar hat Nils als Kleinkind weder gebastelt noch gezeichnet und wich auch sonst allem Feinmotorischen aus. Gerade weil er aber oft draussen war und sich viel bewegte, dachten wir uns nichts dabei.» Bis ihnen dann aufgefallen ist, dass er oft stolperte, mit seinem Trottinette zum Beispiel in den Randstein fuhr oder beim Klettern die Höhe nicht abschätzen konnte. Heute wissen sie: Nils kann Dinge nur zweidimensional sehen und hat kein räumliches Vorstellungsvermögen. Weil er damals in der Entwicklung im Vergleich zu Gleichaltrigen ungefähr ein halbes Jahr hinterher war, riet die Kinderärztin, den Sohn zur Stiftung Netz im aargauischen Othmarsingen in die heilpädagogische Früherziehung (HFE) zu schicken. «Bereits nach zwei bis drei Stunden Abklärung war klar, dass Nils nicht kognitiv beeinträchtigt ist. Bald wurde erstmals der Verdacht geäussert, dass die Beeinträchtigung etwas sein musste, das von den Augen kommt», erinnert sich Cécile Sommer. «Schon damals vermutete man, dass es sich um CVI handeln könnte », fügt Vater Patrick Sommer an. Die Eltern folgten der Empfehlung der Fachleute und organisierten für ihren Sohn von 2015 bis 2017 eine wöchentliche Einheit HFE, bei der die Fachperson zu Nils nach Hause kam. «Wir waren während drei Jahren in der Mühle von Fachleuten», sagt Cécile Sommer. Die haben es zwar alle gut gemeint, aber die Eltern auch überfordert. Die Meinungen der untersuchenden Personen gingen dabei von «alles im normalen Bereich» bis «kognitive Beeinträchtigung » weit auseinander. Die Abklärung in der Neuropsychologie des Kantonsspitals Aarau bestätigte dann den Anfangsverdacht: CVI.

Keine Beeinträchtigung trotz Beeinträchtigung
«Abgesehen davon, dass er eine Ansammlung von vielen Zeichen und Buchstaben auf engem Raum (Crowding) erschwert verarbeiten kann, lebt Nils ein ganz normales Leben eines 13-Jährigen », bekräftigt Patrick Sommer. Nils besucht die Regelschule und geniesst gewisse Lernunterstützungen: Schul- und Prüfungsunterlagen werden für ihn auf A3 vergrössert. Ist das nicht möglich, macht Nils sich selbst ein Foto und vergrössert es auf seinem iPad. Zudem musste er keine Basisschrift lernen, weil er sonst nur mühsam sehen kann, was er schreibt. Patrick Sommer fügt hinzu: «In der Schule gibt es für ihn keinerlei Lernzielbefreiungen, nur Nachteilsausgleiche». Konkret kann das heissen, dass er für Prüfungen zum Beispiel fünf Minuten mehr als seine Kameraden erhält oder dass er im Schulzimmer immer vorne in der Mitte sitzen darf.
In der Schule laufe es gut, bestätigen die Eltern. Die Lehrer seien informiert und seine Mitschüler akzeptieren ihn so, wie er ist. Keine Spur von Mobbing oder Hänseleien. In seiner Freizeit spielt Nils Landhockey und Schlagzeug. Und wenn er sich heute schon für einen Beruf entscheiden müsste, würde er Lehrer oder Polizist werden wollen.

Gut begleitet und unterstützt
Rückblickend sagen beide Elternteile, dass sie während der letzten neun Jahre gut begleitet worden sind. «Klar, als am Anfang alle Fachleute auf uns einredeten, dachten wir erst, unser Kind sei schwer beeinträchtigt», lacht Cécile Sommer heute. «Wir können das den Fachpersonen nicht verübeln. Aber wir hatten zum guten Glück auch unsere eigenen Intuitionen.» Erst wollten sie ihren Sohn gar nicht bei der IV anmelden. In der 3. Klasse wurde das aber unumgänglich: «Wir hätten sonst für Nils keine elektronischen Lehrmittel erhalten», erklärt Cécile Sommer. Die IV machte eine einmalige Gutsprache für visuelle Unterstützung bis Lehr- beziehungsweise Ausbildungsende und finanzierte auch Nils’ Tablet. Ansonsten bezieht die Familie keine IV-Leistungen. Nils wird heute vom visiopädagogischen Dienst des Landenhof (Zentrum für Hören und Sehen) in Unterentfelden begleitet: «Einmal im Quartal geht ein Visiopädagoge zu Nils in die Schule und gibt ihm oder auch den Lehrpersonen nützliche Tipps. Das ist sehr hilfreich und wir sind dankbar für dieses Angebot», sind sich die Eltern einig. Sie sind auch froh über die Konstanz in der Betreuung: In den letzten neun Jahren wurde Nils immer von den gleichen Personen begleitet. Cécile Sommer sagt dazu: «Diese personelle Konstanz ist ein absoluter Mehrwert!»