Ein Bericht von der ERFA-Tagung des SZBLIND in Biel von Nina Hug

„Wir machen die Welt sehbehindertenfreundlich – machen wir sie?“ lautete der provokative Titel der ERFA-Tagung des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (SZBLIND) in Biel vom 21. November 2017. Der Einladung zum Erfahrungsaustausch folgten 48 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Das Bild zeigt die Kleingruppen am Nachmittag in der DiskussionDer Vormittag der Tagung stand im Zeichen des fachlichen Inputs. Von den Vorträgen von Prof. Dr. Felix Wettstein (Fachhochschule Nordwestschweiz), von Kannarath Meystre (Generalsekretär des SBV) und von Arno Tschudi konnten viele Anregungen mit in die Gruppendiskussionen am Nachmittag genommen werden.

Prof. Felix Wettstein, Dozent des Instituts Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten stellte sein Windradmodell zur Beeinflussung der Lebensqualität vor. Die vier Flügel seines vorgeschlagenen Windrades stellen vier Einflussgrössen dar, die auf das Ziel Lebensqualität wirken. Es sind dies: genetische Dispositionen/Konstitution, physikalische Umwelt, soziale Mitwelt und individuelle Verhaltensweisen. Mit Ausnahme der genetischen Disposition handle es sich, so Wettstein, bei den Einflussgrössen um solche, die wir selber alleine oder mit anderen beeinflussen können. Die vier Flügel des Windrades wirkten jedoch nicht jeweils alleine. „Die Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen den Einflussgrössen sind sozusagen der Wind der durch die Flügel rauscht und das Windrad in Bewegung setzt“, fasst Wettstein die Logik des Modells zusammen.

Nach Wettsteins Überblick über Einflussfaktoren auf „Lebensqualität“ ging Kannarath Meystre auf eine ganz konkrete Form der Beeinflussung der Lebensbedingungen Sehbehinderter Menschen ein: die Interessenvertretung, die SZBLIND, SBV, SBb und Behindertenverbände wie Inclusion Handicap oder Agile.ch gemeinsam koordinieren.

Der Koordination der Interessen komme dabei eine zentrale Rolle zu: je stärker eine gemeinsame Meinung vertreten werden könne, desto grösser sei die Chance auf Erfolg. Interessenvertretung heisse aber nicht nur Lobbying in Bundesbern sondern auch viel Arbeit in den Kantonen. Dort nämlich, wo Verordnungen subsidiär auf kantonaler Ebene geregelt oder umgesetzt würden, müssten lokale politische Vertreter oder Behörden sensibilisiert werden. Meystre zeigte einige Beispiele für erfolgreiche Interessenvertretung auf. So erreichten SZBLIND, SBV, SBb, Inclusion Handicap und die Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur zum Beispiel, dass das Anbringen von Leitlinien auf Bahnhöfen flächendeckend umgesetzt werde.

Die beiden Fachvorträge des Vormittags wurden durch die persönliche Lebensgeschichte von Arno Tschudi ergänzt, der sehr eindrücklich beschrieb, welchen Weg er beschreiten musste, bis er in der Lage war, seine Erbkrankheit Retinitis Pigmentosa zu akzeptieren und wie er mit dieser Akzeptanz eine ganz neue Lebensqualität fand. Er habe seine Krankheit lange ignoriert. „Als ich die Diagnose Retinitis Pigmentosa erhielt, brach für mich eine Welt zusammen.“ Er habe versucht mit aller Kraft sein normales Leben aufrecht zu erhalten und mit viel Kompensation und Tricks seinem Beruf weiter nachzugehen. „Aber irgendwann reichte die Energie nicht mehr“, schilderte Tschudi die damalige Situation. „Als die IV festhielt, dass ich 100% arbeitsunfähig bin, hatte ich das Gefühl vollkommen nutzlos zu sein“, beschrieb Tschudi das Loch, in das er fiel. Seine Frau habe ihm dann vorgeschlagen, einen Blindenführhund zu nehmen. „So kam ich in Kontakt mit anderen Betroffenen, lernte mit dem Langstock umzugehen und mein Leben kam zurück“, erzählte Tschudi in Biel. Heute setze er sich intensiv in der Sensibilisierungsarbeit des SBV ein und habe in dieser Arbeit seine Bestimmung gefunden“, resümierte Tschudi seine Geschichte.

Erfahrungsaustausch in Kleingruppen

Von den Vorträgen am Vormittag mit vielen Ideen und Inputs versorgt, ging es nach dem Mittag in den eigentlichen Erfahrungsaustauch der Tagung. In sechs Kleingruppen wurden je zwei Fragestellungen diskutiert und Lösungen für die Schaffung sehbehindertenfreundlicher Welten festgehalten. Die erste Fragestellung zielte auf Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei den Mitmenschen. Die zweite auf problemlösende oder problemverhindernde Anpassungen bei der Umwelt.

Die Ideen für die Sensibilisierung der Mitmenschen für Belange von Seh- und Hörsehbehinderten Menschen waren sehr vielfältig. Grundsätzlich wurde festgehalten, dass sich die Art der Sensibilisierung immer auf die Zielgruppe ausrichten müsse und dass die Fachpersonen ihre spezifischen Kompetenzen einsetzen sollten. Eine Zielgruppe, die von Fachpersonen häufig noch zu wenig sensibilisiert werde, seien die Angehörigen. Themen, die mit Angehörigen angesprochen werden müssten seien: Entlastung, Ressource aber auch Belastung sein können, Wertschätzung der Angehörigen.

Um Verhaltensänderungen auszulösen, brauche es zudem überzeugende Geschichten und Beispiele. Wenn Betroffene und Fachpersonen gemeinsam aufträten, um Mitmenschen für ein angepasstes Verhalten zu gewinnen, stärke dies die Botschaft.

Für die Sensibilisierungsarbeit wurde vom SZBLIND gewünscht, er möge Plattform für den Erfahrungsaustausch sein und einen Pool von Informationen, Dossiers, Konzepten und Merkblättern zur Verfügung stellen.

Um an der Umwelt sehbehindertenfreundliche Anpassungen vorzunehmen, müsse auf gesetzliche Grundlagen und Normen referenziert werden. Das Gleichstellungsgesetz liefere diese Normen, allerdings müsse deren Einhaltung von Fachpersonen des Sehbehindertenwesens immer wieder eingefordert, angemahnt und kontrolliert werden, war man sich an der Tagung einig. Nebst den gesetzlichen Normen, die Anhaltspunkte für Verbesserungen lieferten, müssten Probleme und Bedürfnisse auch bei den Betroffenen selber abgeholt und identifiziert werden.

Für die Anpassung der baulichen Umgebung komme den Orientierung & Mobilitäts-Fachpersonen (O&M) eine besondere Expertenrolle zu. Es müsse sichergestellt werden, dass im Bereich O&M genügen Ressourcen zur Verfügung stünden, damit das Fachwissen eingebracht werden könne. Für die Einhaltung baulicher Normen im öffentlichen Raum wurde vorgeschlagen, dass es pro Kanton jeweils einen Ansprechpartner aus dem Sehbehindertenwesen für Politik, Planer und Umsetzer geben müsse.

Weitere Themen in der Diskussion zu Umweltanpassungen waren Haushaltsgeräte, Schulungs- und Prüfungsmaterialen für Sehbehinderte und die Bereitstellung von Dienstleistungen für hörsehbehinderte Menschen, die es ihnen überhaupt erst ermöglichten an der Umwelt partizipieren zu können. Der gesamte Tagungsbericht ist beim SZBLIND auf Anfrage erhältlich: bildung@szblind.ch

Schweigen ist Silber Sprechen ist Gold.

Zum Abschluss der Tagung formulierte Thomas Dietziker, Präsident des SZBLND, die Rolle des SZBLIND im Aufbau einer inklusiven Gesellschaft: „Wir müssen die Auswirkungen einer Sehbehinderung oder Blindheit spür- und erlebbar machen und Barrieren im individuellen und öffentlichen Raum aufzeigen. Eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung können wir nicht zulassen. Denn im Einsatz für unsere Klientinnen und Klienten gilt: «Schweigen ist Silber – SPRECHEN IST GOLD»“. Mit diesem starken Statement schloss Thomas Dietziker die Tagung ab.