Ein nationaler Überblick über die spezialisierte Förderung und Unterstützung von Kindern mit Sehbehinderung oder Hörsehbehinderung zeigt, dass gute spezifische pädagogische Instrumente existieren. Es besteht in der Schweiz aber kaum administrativ-pädagogische Gewähr, dass alle betroffenen Kinder davon profitieren können. Ein neues Projekt des SZBLIND wird die sinnesspezifische Förderung dieser Kinder wissenschaftlich untersuchen.

Von Stefan Spring

Dunkelziffer und Erhebung durch den SZBLIND
Die Informationen zum Aufkommen von Seh- und Hörsehbehinderungen im Kindes- und Jugendalter sind leider rar. Die Kinder, die mit einer Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung leben, werden in der Schweiz nicht offiziell erfasst, weder auf Bundes- noch auf der für das Erziehungswesen zuständigen Kantonsebene. Dadurch sind die Anzahl der Betroffenen sowie deren Bedürfnisse unbekannt. Das von der Schweiz ratifizierte Übereinkommen der UNO über die Rechte der Menschen mit Behinderungen verlangt nicht nur, dass wir Vorkehrungen treffen, die den Bedürfnissen jedes Kindes gerecht werden (Art. 24), sondern auch, dass wir einen wissenschaftlichen und statistischen Überblick schaffen, der uns erlaubt, politische Weichenstellungen vorzunehmen (Art. 31).
Der SZBLIND hat für die Jahre 2011 bis 2015 bei den in der Schweiz tätigen Sonderschulen und ambulanten Diensten zur Unterstützung von Kindern mit einer Seh- und Hörsehbehinderung die Schüler- und Fallzahlen zusammengetragen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass in der Schweiz rund 1800 Kinder und Jugendliche durch Organisationen gefördert werden, die auf Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung spezialisiert sind. Die detailliertere Auswertung von 1337 Fällen (= N) aus dem Schuljahr 2014/15 zeigt, dass etwa 26% der spezifisch geförderte Kinder im Vorschulalter und rund 65% im Schulalter sind. Die Fallzahlen aus den spezialisierten Stellen verdeutlichen auch, dass man den Kontakt zu den Jugendlichen nach dem Schulalter verliert. Bloss etwa 160 Jugendliche profitieren weiterhin von einer spezialisierten Unterstützung (9%).

Kinder mit einer Sehbehinderung respektive mit einer Hörsehbehinderung oder mit Taubblindheit können grundsätzlich ab dem frühesten Kindesalter von einer meist ambulant organisierten, auf Sehbehinderung spezialisierten Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) profitieren. Im Schulalter können Kinder und Jugendliche, bei denen eine Sinnesbehinderung festgestellt und abgeklärt wurde, normalerweise die Regelschule an ihrem Wohnort, die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe, die Berufsschule oder auch die Hochschule in der Region besuchen (Modelle zur integrativen Schulung). Dies ist in gut zwei Dritteln (69%) der bekannten Fälle aus dem Schuljahr 2014/15 so gewesen. Weitere 13 Prozent der Schulkinder besuchten eine auf Sehbehinderung spezialisierte Schule, die jedoch auch den Lehrplan der Volksschule befolgt.
Sonderschulungsmodelle mit individualisiertem Lehrplan und spezifische Berufsbildungsangebote (Attest- und PrA-Ausbildungen) treten in den Vordergrund, wenn nebst der Sehbeeinträchtigung zusätzliche Lern- und Entwicklungserschwernisse bestehen. Bei 18 Prozent der Kinder liegt ein Förderbedarf vor, der im Regelschulsystem (noch) nicht genügend aufgefangen werden kann. Die Grenzen zwischen integrativer und separativer schulischer Laufbahn und deren Indikationen verändern sich zurzeit noch stetig.

Verpasste Chancen
Damit die Kinder und Jugendlichen von den dargestellten Unterstützungsmöglichkeiten profitieren können, muss die Sinnesbeeinträchtigung möglichst früh erkannt und abgeklärt werden. Der SZBLIND führt als Dachorganisation eine sonderpädagogische Fachkommission. Diese beobachtet und diskutiert die Entwicklungen in diesem speziellen Fachbereich. Die Kommission vertritt die These, dass in der Schweiz ein Teil der Kinder mit einer (Hör-) Sehbeeinträchtigung ungenügende sonderpädagogische Förderung erhält.

Die Förderung muss als «ungenügend» gelten, wenn sie die spezifischen Aspekte der (Hör-) Sehbehinderung nicht fachgerecht berücksichtigt und dies dazu führt, dass Lern- und Entwicklungschancen verpasst werden. Der SZBLIND vertritt die Meinung, dass die Förderung bei Sinnesbeeinträchtigungen immer ein spezialisiertes heilpädagogisches Wissen erfordert, ein Wissen, das angesichts der relativ tiefen Fallzahlen bei nicht spezialisierten Heilpädagogischen Diensten, Sonder- und Regelschulen höchstens zufälligerweise vorhanden ist. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Möglichkeiten von spezialisierter Förderung nicht allen bekannt sind, weder pädagogischen oder medizinischen Fachpersonen noch Behörden oder Eltern.

Schlussfolgerungen
Auf eine allgemeine «Vermutung zu einer Dunkelziffer» zu verweisen, ist ein schwaches Argument. So hat eine auf Sehbehinderung spezialisierte Einrichtung festgestellt, dass seit vielen Jahren aus bestimmten Gemeinden im Kanton keine Kinder mit Sehbehinderung mehr gemeldet werden. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass es diese Kinder nicht gibt. Vielmehr glauben wir, dass das Erkennungssystem fehleranfällig ist. Der SZBLIND wird die Fördersituation von Kindern mit einer (Hör-)Sehbehinderung voraussichtlich mit zwei Studienaufträgen wissenschaftlich untersuchen lassen, um danach zusammen mit seinen Mitgliedsorganisationen fachpolitisch aktiv zu werden. Dies ist notwendig, um zu gewährleisten, dass Kinder mit Einschränkungen im Sehen in Zukunft keine Entwicklungschancen mehr verpassen. Der Grundstein für die Studien wird im Jahr 2019 gelegt. Zwei Hauptdimensionen sollen verfolgt werden. Auf der einen Seite soll die Förderungs-Realität untersucht werden: Wie wird die Förderung nach einer Identifizierung organisiert und kontrolliert? Ist die Kette „Erkennen, Abklären, Bedarf festlegen, Massnahmen beschliessen, Massnahmen umsetzen“ vorhanden? Spielt die Organisationsform im Kanton eine Rolle? Auf der anderen Seite wollen wir auch der Identifizierungs-Problematik Beachtung schenken: Wie entsteht Unterversorgung, was passiert im System zwischen den Rollenträgern und den Zuständigkeiten?
Wir werden in kommenden Ausgaben von tactuel weiter über die Studien und ihre Ergebnisse berichten.