Erkenntnisse aus einer Bachelorarbeit1 am Psychologischen Institut der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Von Roman Rey (Student Bachelorarbeit), Siril Wallimann (Studentin Bachelorarbeit), Marcel Herrmann2 (Referent Bachelorarbeit)

eine Frau mit weissem Stock geht mit einem Kind an der Hand spazieren.
Positive Rollenbilder: Eine Frau mit Blindheit als Mutter eines Kindes. / Bild: shutterstock.com

Mit COVIAGE (2014–2017) und SELODY (2019– 2021) wurden in der jüngeren Vergangenheit bereits zwei wissenschaftliche Studien zum Einfluss einer Sehbeeinträchtigung auf die Alltagsbewältigung und Lebensgestaltung publiziert. Während sich COVIAGE dem «Erfolgsrezept» des erfolgreichen Alterns widmete, konzentrierte sich SELODY auf die Auswirkungen einer Sehbeeinträchtigung auf die Partnerschaft.
In einer Studie an der ZHAW machten wir sprichwörtlich einen Schritt zurück und rückten den Erblindungsprozess in den Fokus, ohne uns dabei auf eine Altersgruppe oder einen Lebensbereich zu beschränken. Mithilfe sog. Erzählinterviews wurde untersucht, mit (a) welchen Herausforderungen Menschen im Prozess des Sehverlusts konfrontiert sind und (b) welche Ressourcen deren Bewältigung erleichtern. Die Studienergebnisse sollen u. a. Fachpersonen und Angehörige dabei unterstützen, ein Verständnis für die Erlebniswelt sehbeeinträchtigter Menschen zu entwickeln.
An unserer Studie nahmen 12 Menschen im Alter von 23 bis 80 Jahren teil, welche aufgrund einer degenerativen Augenerkrankung hochgradig sehbeeinträchtigt oder erblindet waren. Im Unterschied zu den beiden Vorgängerstudien mussten die Teilnehmenden weder einen Fragebogen ausfüllen noch auf die Fragen eines Interviewleitfadens antworten. Stattdessen wurden sie dazu eingeladen, ihre persönliche Geschichte des Sehverlusts zu erzählen, ohne dabei unterbrochen zu werden. Dadurch erhielten die Teilnehmenden Gestaltungsfreiheit in der Schilderung der eigenen Erfahrungen.
Die Ergebnisinterpretation profitierte von den verschiedenen Perspektiven einer erblindeten Studentin und eines sehenden Studenten. Präsentiert werden nachfolgend exemplarisch Herausforderungen und Ressourcen zu vier Themenfeldern. Mithilfe echter Zitate aus den Interviews werden theoretische Inhalte anschaulich und lebendig. Die beiden fiktiven Figuren Alexandra und Kai stehen dabei stellvertretend für die Gesamtstichprobe.

Thema 1: Identitätsfindung
«Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer blosse Spieler.» – William Shakespeare

Herausforderungen: Selbstbild und Identität sind geprägt von den verschiedenen Rollen (z. B. Mutter, Ehefrau, Lehrerin), welche Menschen in der Gesellschaft «spielen». Für Menschen mit Beeinträchtigungen werden Entwicklung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbilds und einer eigenen Identität durch diskriminierende Stereotypen erschwert. So z. B., wenn – wie im Fall von Kai – aufgrund einer Erblindung zentrale Rollen plötzlich nicht mehr ausgefüllt werden können. «Ich habe als der Starke gegolten und der Lustige, immer ist etwas los. Action, Power. Und dann wirst du auf einmal verletzlich.»
Alexandra beschreibt, wie ihre Selbstwahrnehmung durch gesellschaftliche Rollenerwartungen bedroht wird: «Weil so sehr verschiedene gesellschaftliche Ansprüche an mich gestellt werden, als Frau wird von mir erwartet, dass ich Kinder bekomme in der aktuellen patriarchalen Gesellschaft. Aber andererseits als Frau, die mit einer Frau zusammen ist, wird mir irgendwie gesagt, ich kann keine Kinder kriegen. … Und dann das Dritte eben, dass ich als Mensch mit Behinderung keine Kinder bekommen soll.»
Ressourcen: Positive Rollenvorbilder und die Würdigung des individuellen Leistungsvermögens erleichtern die Aufrechterhaltung von Selbstbild und Identität.

Thema 2: Aufrechterhaltung der Autonomie
Herausforderungen: Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sind vielfach auf Unterstützung angewiesen, wodurch die Befriedigung der Bedürfnisse nach Freiheit und Autonomie bedroht wird. Einerseits wirkt sich dies negativ auf das Selbstbild aus, weil befürchtet wird, als «faul» und «unselbstständig» wahrgenommen zu werden und anderen Menschen zur Last zu fallen. «Also ich denke schon manchmal noch oh, wenn ich jetzt nicht mehr leben würde oder so, das wäre doch viel einfacher für die Familie, dann müssten sie nicht immer Rücksicht nehmen auf mich» (Alexandra). Andererseits besteht das Risiko, dass Unterstützung sehbeeinträchtigte Menschen indirekt daran hindert, neue Kompetenzen und Strategien zur selbständigen Alltagsbewältigung zu entwickeln.
Ressourcen: Soziale Unterstützung, der Kontakt zu anderen Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sowie Transparenz und Offenheit dienen der Aufrechterhaltung der Autonomie.

Thema 3: Entwicklung von Bewältigungsstrategien
Herausforderungen: Bewältigungsstrategien für den Umgang mit belastenden Lebensereignissen gelten als dysfunktional, falls sie nicht zu einer nachhaltigen Lösung beitragen, sondern lediglich in einer kurzfristigen Symptomreduktion resultieren und das Problem langfristig sogar verschärfen (z. B. Alkohol- und Drogenkonsum und Vermeidungsstrategien). Auch selbstabwertende Wahrnehmungs- und Denkmuster – wie sie von Kai beschrieben werden – zählen zu den dysfunktionalen Bewältigungsstrategien. «Gewisse Sachen hat man einfach nicht machen können. Als Grund nahm ich nicht die Augenkrankheit, sondern dachte immer, dass ich als Person nicht genüge. Das prägte mich und beeinflusste meinen Selbstwert in dieser Entwicklung.»
Ressourcen: Zu den funktionalen Bewältigungsstrategien zählen u. a. die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbilds, das Streben nach Autonomie, Religion und Spiritualität, Selbstliebe und Akzeptanz. Auch ein Reframing (positive Umdeutung), wie es von Alexandra erfolgreich angewandt wurde, gilt als funktional: «Ich habe letztes Mal mit einer Bekannten darüber gesprochen, dass ich das Gefühl habe, ab einem gewissen Grad von Augenlicht, das man verliert, wird es einfacher. … Auf einer Art immer schlimmer, weil es weniger wird, aber auch einfacher, weil es viel eindeutiger wird.»

Thema 4: Umgang mit Hilfsmitteln
Herausforderungen: Angst vor Stigmatisierung, negativen Fremdwahrnehmungen (z.B. Vortäuschung einer Krankheit) und Konsequenzen im Berufsalltag können Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung dazu veranlassen, auf Hilfsmittel wie den weissen Stock zu verzichten. «Der erste Schritt war am Bahnhof. Der Zug fuhr ein und zack, ich nahm [den Stock] raus. Ich habe mich superdumm gefühlt, weil ich immer das Gefühl hatte, dass mich alle Leute beobachtet haben. Jetzt ist er in den Zug ohne Stock eingestiegen, liest noch auf dem Handy Sachen und jetzt, wo er aussteigt, nimmt er den Stock» (Kai).
Ressourcen: Umgang und die Nutzung von Hilfsmitteln werden durch ein Höchstmasse an Autonomie, Reframing und Akzeptanz erleichtert.

Fazit
Der Sehverlust aufgrund einer degenerativen Augenerkrankung erfordert von den betroffenen Menschen die Bewältigung unterschiedlichster Herausforderungen, um sich erfolgreich an die neue Lebensrealität anzupassen. Angehörige und Fachpersonen können Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung (z.B. im Rahmen einer Psychotherapie) bestmöglich unterstützen, wenn sie sich in deren Lebensrealität hineinzufühlen vermögen. Nur wenn nachvollzogen werden kann, mit welchen Herausforderungen betroffene Menschen konfrontiert sind, können diese bestmöglich bei der Bewältigung dieses kritischen Lebensereignisses unterstützt werden. Der Weg zu einem selbstbestimmten und erfüllten Leben führt allerdings nicht nur über die Akzeptanz betroffener Menschen. Auch die Gesellschaft ist in der Verantwortung, einer Stigmatisierung proaktiv entgegenzuwirken, negative Stereotypen zu widerlegen und Inklusion in Ausbildung und Arbeit zu fördern.

Podcast zum Thema „Herausforderungen beim Sehverlust“


1) Rey, R., & Wallimann, S. L. (2022). Herausforderungen und Ressourcen während dem Sehverlust: Qualitative Studie mit narrativen Interviews und angepasstem Zeitleisten-Verfahren [Unveröffentlichte BSc-Arbeit]. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
2) Korrespondenzadresse: Dr. Marcel Herrmann (marcel.herrmann@zhaw.ch), Dozent, Fachgruppe Diagnostik und Beratung, Pfingstweidstrasse 96, Postfach, CH-8037 Zürich