Das Usher-Syndrom ist die häufigste vererbte Kombination von Hör- und Sehbehinderung. Doch was ist das Usher-Syndrom genau? In diesem Artikel wird das Usher-Syndrom aus medizinischer Sicht genauer beschrieben, die verschiedenen Krankheitsverläufe dargestellt, der Ablauf der Diagnose erklärt und technische sowie gentherapeutische Möglichkeiten aufgezeigt.

Von Dr. Kerstin Nagel-Wolfrum und Nina Hug

Dr. Kerstin Nagel-Wolfrum ist Molekularbiologinan der Universität Mainz. Unter www.ag-wolfrum.bio.uni-mainz.de finden Sie auch genauere Angaben zur zitierten Literatur.

Eine junge Frau, vor einem Zug stehend, blickt in die Kamera. Das Bild ist so bearbeitet, dass es den Röhrenblick simuliert.
Menschen mit Usher Syndrom haben in der Regel einen Röhrenblick, d.h. das Gesichtsfeld
ist massiv eingeschränkt. Bild: SZBLIND

Das Usher-Syndrom (USH) ist die häufigste vorkommende, vererbbare Kombination von Hör- und Sehbehinderung des Menschen und für 50 Prozent solcher Fälle verantwortlich. Mit einer Prävalenz von 1:10 000 bis 1:6000 gehört es dennoch zu den seltenen Erkrankungen. Das USH zeigt sich klinisch und genetisch in verschiedenen Ausprägungen. Man unterscheidet drei Typen USH 1–3. Die Klassifizierung erfolgt nach dem Einsetzen, dem Schweregrad und dem Fortschreiten der Symptome (Reiners und Wolfrum 2006).

Klinische Klassifizierung
Der schwerwiegendste Krankheitsverlauf ist USH1. Betroffene Patienten kommen bereits mit gravierendem Gehörverlust bis hin zu kompletter Taubheit auf die Welt. Die Kinder zeigen Störungen des Gleichgewichts, und der fortschreitende Verlust der Sehkraft durch Retinitis pigmentosa (RP) entwickelt sich vor dem 10. Lebensjahr. USH1 kommt bei circa 35 Prozent aller Usher-Patienten vor und ist damit die zweithäufigste Form (Wolfrum 2012; Bannet et al. 2016). Die häufigste Form ist USH2 und betrifft zirka zwei Drittel der Patienten. Diese zeigen unterschiedlich ausgeprägten, angeborenen Gehörverlust und kontinuierlich abnehmende Sehkraft durch RP, die sich jedoch erst in der Pubertät manifestiert. Gleichgewichtsstörungen sind eher die Ausnahme. Des Weiteren ist die einsetzende RP milder, da das Absterben der Photorezeptorzellen (Stäbchen-Zapfendystrophie) weniger ausgeprägt verläuft. Die Mehrzahl aller Betroffenen behalten ihre Lesefähigkeit dauerhaft und eine vollständige Erblindung tritt nicht ein (Bannet et al. 2016). USH3 beschreibt die seltenste Form des Usher- Syndroms, ca. 3 Prozent der Patienten werden diesem Subtyp zugeordnet. USH3 besitzt den mildesten Krankheitsverlauf mit unterschiedlicher Schwere, Progression und Ausprägung der Symptome (Bannet et al. 2016). Meist können Patienten bis zur späten Kindheit normal hören, häufig treten die Störungen des Hörvermögens erst nach dem Spracherwerb oder noch später ein. Der Sehverlust durch RP setzt meistens in der späten Kindheit oder im jugendlichen Alter ein. Beide Symptome können sich zunehmend verschlechtern. Störungen des Gleich-gewichtssinnes treten nur sporadisch auf.

Diagnose des Usher-Syndroms
Bei dem Usher-Syndrom sind zwei zentrale Sinnesorgane, das Auge und das Ohr, in ihrer Funktion beeinträchtigt. Zudem, abhängig vom vorliegenden USH-Typ, kann auch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr gestört sein. Je früher Patienten eine Diagnose gestellt werden kann, desto eher können Betroffene und Angehörige medizinisch aufgeklärt und auf Wunsch auch psychosozial betreut werden. Allerdings ist das Stellen einer frühzeitigen Diagnose nicht leicht umzusetzen, da das Einsetzen der auditorischen, ophthalmologischen und das Gleichgewichtsorgan betreffende Symptome zeitversetzt stattfindet. Pädiater (Kinderärzte), Ophthalmologen (Augenärzte) und Otologen (Ohrenärzte) müssen deswegen für die Diagnose des Usher-Syndroms sensibilisiert werden.

HNO-ärztliche Abklärung
Hörstörungen werden in der Regel frühzeitig diagnostiziert, da ein erstes Hörscreening bereits im Rahmen der Neugeborenen-Basis-Untersuchung (U2-Untersuchung) stattfindet. Bei dem Hörscreening wird die Funktionsfähigkeit des Innenohrs bzw. der äusseren Haarzellen getestet. Ein weiterer Hinweis auf USH zeigt sich durch verzögertes Erreichen motorischer Entwicklungsstufen. Kinder mit USH1 erlernen dadurch erst im Alter von 18 Monaten bis zwei Jahren das Laufen.

Augenärztliche Abklärung
Im Gegensatz zur meist angeborenen Hörstörung, die durch die U2-Untersuchung einfach und sicher abgeklärt werden kann, werden Sehstörungen in der Regel später, häufig erst im zweiten Lebensjahrzehnt, diagnostiziert. Erste Veränderungen im Sehvermögen können schon bei Kleinkindern mittels Ganzfeld-Elektroretinographie (ERG) festgestellt werden (Nagel-Wolfrum et al. 2019). Allerdings gibt es zu beachten, dass isolierte Schwerhörigkeiten sehr viel häufiger als das Usher-Syndrom sind, sodass die zahlreichen Untersuchungen, die belastend für Eltern und Kind sind, auch ökonomisch abgewogen werden müssen.

Molekulargenetische Abklärung
Um eine gesicherte Diagnose des Usher-Syndroms zu stellen, ist eine molekulargenetische Abklärung unumgänglich. Sie erlaubt es, Rückschlüsse auf den genetischen Subtyp sowie auf die exakt vorliegende pathogene Variante der betroffenen Person zu ziehen. Sie ist auch die Voraussetzung, um der Patientin und dem Patienten den Zugang zu genspezifischen Therapien zu ermöglichen. Allerdings muss bei jeder molekulargenetischen Abklärung beachtet werden, dass im Vorfeld eine Bewilligung der Krankenkassen einzuholen ist.

Kompensation der Hörstörung
Die Kompensation der Hörstörung bei USH-Betroffenen erfolgt entweder durch den Einsatz von Hörgeräten oder durch Cochlea-Implantate (CI). Hörgeräte kommen bei Betroffenen mit geringer bis mittelgradiger Innenohrschwerhörigkeit zum Einsatz. Bei Patientinnen und Patienten mit hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit bis Taubheit wird ein CI operativ eingesetzt. Vor allem bei Säuglingen mit diagnostizierter hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit sollte das CI frühzeitig implantiert werden, um die Sprachentwicklung des heranwachsenden Kindes zu begünstigen. Die Diagnose des Usher-Syndroms kann Eltern bei ihrer Entscheidung zu einer Cochlea-Implantation unterstützen, da dieser Befund ebenfalls eine zunehmende Einschränkung des Sehens prognostiziert und somit langfristig keine Kommunikation über Gebärdensprache erfolgen kann.

Ansätze für den Erhalt des Sehens
Für den Sehverlust der USH-Betroffenen gibt es wie für die meisten erblich bedingten Augenerkrankungen keine kurative Therapie. Für vollständig erblindete Patienten sind Retinaimplantate zugelassen. Sie erlauben die Perzeption von Konturen und Helligkeitsunterschieden und haben einen positiven Effekt auf die Lebensqualität der Patientinnen und der Patienten. In Bezug auf den Sehverlust ruhen die grössten Hoffnungen auf genbasierten Therapieansätzen.
Derzeit laufen verschiedene klinische Tests, welche auf die unterschiedlichen genetischen Ursachen zugeschnitten sind. Detailliertere Informationen zu möglichen gentherapeutischen Ansätzen lesen Sie untenstehend.



Genetische Klassifizierung

Die genetischen Ursachen der drei Usher-Typen sind sehr vielseitig.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind dreizehn genetische Subtypen bekannt und zehn krankheitsassoziierte Gene identifiziert. Sechs dieser Gene besitzen krankheitsauslösende Varianten, die zu USH1 führen. Drei Gene werden mit Usher Typ 2 assoziiert. Für Usher Typ 3 ist bisher nur ein Gen mit krankheitsauslösenden Varianten bekannt. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass noch mehr Gene dem Usher-Syndrom zugeordnet werden können, da bei circa 10% der Patienten mit diagnostizierter Taubblindheit die molekulargenetische Abklärung erfolglos bleibt. (Nagel-Wolfrum et al. 2019)

Gentherapien
Zu den vielversprechendsten Gentherapien gehören die Genaddition mithilfe von adeno-assoziierten Viren (AAVs) oder Lentiviren, das Überlesen von bestimmten krankheitsauslösenden Varianten durch TRIDs (translational read-throughinducing drugs) sowie das Exon-Skipping durch ASOs (Antisense-Oligonukleotiden). Genaddition bezeichnet das Einschleusen korrekter Genkopien mittels Viren. Die eingebrachten korrekten Genkopien erlauben eine korrekte Biosynthese der entsprechenden Proteine. TRIDS kommen zum Einsatz, wenn durch eine pathogene Veränderung eines Gens eine sogenannte Nonsense-Mutation hervorgerufen wird. Bei «Nonsense-Mutationen» wird auf RNA-Ebene ein frühzeitiger Abbruch der Proteinsynthese vermerkt. TRIDs sind kleine Moleküle, die es erlauben, die Proteinsynthese in solchen Fällen fortzusetzen. Das so entstehende Protein unterscheidet sich höchstens in einer Aminosäure vom korrekten Protein und ist zumeist funktionell (Nagel-Wolfrum et al. 2016). Antisense- Oligonukleotide: ASOs greifen in die Proteinsynthese ein und schneiden im Entstehungsprozess der Zusammensetzung der Proteine aus proteinrelevanten Stücken (Exons) dasjenige Exon heraus, welches krankheitsauslösend ist. Die Folge ist eine veränderte reife mRNA, bei der das Exon, in dem die krankheitsauslösend Variante liegt, fehlt. Das Protein ist im Resultat jedoch ein Stückchen kürzer und es muss getestet werden, ob die Funktionalität erhalten geblieben ist.



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Retina Suisse ist die Vereinigung von Patientinnen und Patienten mit Retinitis pigmentosa (RP), Usher-Syndrom und anderen Netzhaut- Erkrankungen.

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– engagiert sich für die Früherkennung mit dem Ziel, Sehverlust bei Risikogruppen zu vermeiden

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