Als meine Netzhauterkrankung erst soweit fortgeschritten war, dass ich mein Restsehvermögen situativ noch nutzen konnte, wurde ich wiederholt gefragt, weshalb ich denn nicht einfach eine Brille trage. Das zeugt von einer recht selbstverständlichen Erwartung an die moderne Medizin und Technik, dass mein Problem heutzutage doch eigentlich „repariert“ werden können müsse. Da sich bis dato eine menschliche Netzhaut jedoch nicht transplantieren lässt, sind wir Betroffene auf Hilfsmittel (klassische wie moderne) aber vor allem auch auf das Verständnis und den Abbau der Barrieren durch unsere Mitmenschen angewiesen.

Von Gerd Bingemann

Was Gerd Bingemann am Tisch im Restaurant im Gespräch mit einem Kollegen. die technischen Hilfsmittel anbelangt, scheinen auf den ersten Blick zwei Systeme vielversprechend: Kameras mit Sprachausgabe, welche die Umwelt beschreiben und elektronische Detektoren von Hindernissen. Beides hat aber seine Fallstricke.

Kamera-Brillen mit Sprachausgabe

Elektroniksysteme, die via Sprachausgabe (und Kopfhörer) Gegenstände wie Autos oder sogar Gesichter beschreiben, können die natürliche Sehleistung nur unvollständig kompensieren. Im Verlauf der menschlichen Entwicklung wird das System Auge-Hirn darauf trainiert, blitzschnell zu selektieren, was von der erblickten Umwelt wichtig ist und was gleich weggefiltert werden kann. Eine beschreibende Elektronikbrille weiss natürlich nicht, was für mich als Träger gerade wichtig ist – zudem verlöre ich aufgrund der Dauer einer Sprachausgabe viel Zeit, bis ich von A nach B käme. Dort angekommen hätte ich dann sehr viel Energie verbraucht, weil ich viele für mich unwichtige Detailinfos verarbeiten hätte müssen… Punktuell können diese Brillen helfen, zum Beispiel beim Einkauf von Lebensmitteln – aber auch hier hat meine Erfahrung gezeigt, dass ich viel schneller bin, wenn ich im Dorfladen weiss, wo welche Produkte zu finden sind, und wenn ich eine nette Verkäuferin um Unterstützung fragen kann.

Detektoren für Hindernisse auf Kopfhöhe

Auch elektronische Detektoren, welche vom Stock unterlaufene Hindernisse auf Brust- und Kopfhöhe anzeigen, mögen punktuell helfen. Bei den meisten Nutzern verlieren sie jedoch früher oder später an Attraktivität.
Weshalb das? Hier ein konstruiertes Modellbeispiel, das meine tatsächlichen Erlebnisse aber durchaus wiederspiegelt: Ein Ingenieur beobachtet wiederholt, wie sich eine blinde Person auf dem Arbeitsweg den Kopf an einem auskragenden Schild anstösst. Diese Beobachtung gibt ihm zu denken: „Infrarot, Ultraschall oder Laser müsste doch eine gute Basis für eine Lösung hergeben“, überlegt er und baut den Prototypen eines Geräts, welches die Gegend auf 2 m Distanz abtastet und durch ein Signal anzeigt, wenn der Träger nicht ausweicht. Nun passt er die blinde Person auf ihrem Arbeitsweg ab und testet mit ihr gleich vor Ort, ob das Höhenhindernis mit dem Gerät umgangen werden kann. „Gehen Sie jetzt geradeaus“, ruft er der blinden Person zu. Und tatsächlich – letztere kann das auskragende Schild im letzten Moment wahrnehmen und ohne Kollision umrunden. „Super – geschafft!“, meinen nun beide Beteiligten erfreut. Nach einem Monat beobachtet der Ingenieur zufälligerweise durch sein Bürofenster, wie die blinde Testperson ohne sein Gerät einhergeht. Überrascht rennt er nach draussen und fragt sie nach dem Grund. „Hier ist es derart bevölkert, dass es immer nur vibriert, die mobilen Hindernisse in Gestalt anderer Menschen aber regelmässig doch noch ausweichen und ich dadurch nur nervös geworden bin“, antwortet die Testperson. „Dann habe ich durch unbewusste Körperbewegungen Seitenhindernisse detektiert, welche mir gar nicht in meinem eigentlichen Weg standen.“ Dieses fiktive Beispiel zeigt, wie komplex die Umwelt ist, in der wir uns bewegen und darum vordergründig patente Hilfsmittel doch an ihre Grenzen stossen.

Verständnis unter den Menschen

Fazit: Hilfsmittel können punktuell bei der Überwindung behinderungsbedingter „Flaschenhals-Situationen“ helfen und so wertvolle Beiträge für ein inklusives Leben leisten. Aber aufgepasst: Es lassen sich nicht mechanisch alle Probleme auf deren Lösung durch Technik und Medizin abschieben – das „eierlegende Wollmichschwein“ als passende Hilfe für jede Situation gibt es bislang noch nicht, so dass es gemäss meiner Erfahrung für ein gelingendes Zusammenleben weiterhin gegenseitiges Verständnis unter den Menschen braucht – d.h. man kommt auch künftig nicht darum herum, miteinander auf Augenhöhe zu reden. Auch gilt es, hüben und drüben die Möglichkeiten und Grenzen zu spüren: Was kann ich meinem Gegenüber zumuten? Worauf muss ich mich selber einlassen und meinen eigenen Beitrag leisten?