Wie viele Heimbewohner und -bewohnerinnen sind eigentlich von einem Seh- oder Hörverlust oder dem Verlust kognitiver Fähigkeiten betroffen und wie wird eine gute Unterstützung und Pflege gewährleistet? Neue Analysen der sogenannten RAI-Daten geben Antworten.

ein älterer Mann sitz auf einem Sofa. Daneben ein Pfleger, der Daten auf ein Klemmbrett schreibt.
Die Erhebung der Gesundheitsdaten in Alters- und Pflegeheimen wurden für die Studie ausgewertet./ Bild: shutterstock.com

Von Vivianne Visschers, Verantwortliche Forschung SZBLIND

Bekannte Phänomene des Älterwerdens sind Verschlechterungen des Sehvermögens und des Hörvermögens. Neben dem «normalen» Sehverlust als Folge einer Alterung der Augenlinse, gibt es bestimmte Augenerkrankungen, die im Alter häufiger auftreten, beispielsweise die Makula- Degeneration, der graue Star und der grüne Star. Ein anderes Phänomen, das mit dem Älterwerden in Zusammenhang gebracht wird, ist eine Verminderung der kognitiven Fähigkeiten, z.B. sich an den Namen des Enkelkinds nicht mehr erinnern und nicht mehr wissen, wo man die Hausschlüssel hingelegt hat. Solche milden Gedächtnisstörungen können sich zu schwereren kognitiven Störungen entwickeln, wie beispielsweise einer Demenzerkrankung. Seh-, Hör- und kognitive Verluste erschweren Alltagsaktivitäten und soziale Kontakte, belasten die körperliche Gesundheit (z.B. Stürze) und das psychische Wohlbefinden (z.B. depressive Gefühle). Diese Beeinträchtigungen führen, oft in Kombination mit anderen Beschwerden, dazu, dass betroffene Personen in ein Alters- oder Pflegeheim umziehen. Dort brauchen sie eine passende Unterstützung.

Viele Pflegeheimbewohner und -Bewohnerinnen von Seh- und/oder Hörverlust betroffen
In einem SZBLIND-Bericht aus 2017 wurden bereits explorative Auswertungen bezüglich der Prävalenzen von Sinnesbeeinträchtigungen und kognitiven Störungen unter Bewohnern und Bewohnerinnen von Pflege- und Altersheimen veröffentlicht. Forschende der Universität Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) haben vor kurzem anhand von neuen Daten die Prävalenzen von Seh-, Hör- oder Hörsehbehinderung, sowie von kognitiven Beeinträchtigungen bei Bewohnern und Bewohnerinnen von Schweizer Alters- und Pflegeheimen analysiert (siehe Textbox S. 22). Die Ergebnisse zeigen, dass insgesamt vier von zehn Bewohnerinnen und Bewohnern einer Pflegeabteilung (43%) leichte bis sehr schwerwiegende Probleme beim Sehen hat, auch wenn sie Hilfsmittel wie eine Brille einsetzen. Sie können also die normale Textgrösse einer Zeitung oder eines Buches nicht mehr lesen. Das Sehvermögen bei 9% der Bewohnerinnen und Bewohner ist mittel beeinträchtigt und bei 5% der Bewohner und Bewohnerinnen ist das Sehvermögen stark oder schwerwiegend beeinträchtigt, d.h. Gegenstände in der Umgebung werden kaum oder nicht wahrgenommen. 57% der Bewohner und Bewohnerinnen sehen gut.
Knapp die Hälfte (48%) der Heimbewohner und -bewohnerinnen hat mindestens eine leichte Hörbeeinträchtigung. Sie hören also schlecht in unruhigen Umgebungen, auch wenn ein auditives Hilfsmittel verwendet wird. Bei 12% der Bewohner und Bewohnerinnen wurde sogar festgestellt, dass sie nur ausreichend hören, wenn laut und deutlich gesprochen wird, und bei 1%, dass ihr Hörvermögen stark reduziert bzw. nicht vorhanden ist. Etwas mehr als die Hälfte (52%) der Bewohnerinnen und Bewohner hört gut.
Knapp 15% der Heimbewohner und -Bewohnerinnen sind nur sehbeeinträchtigt und 20% sind nur hörbeeinträchtigt. Demgegenüber hat mehr als ein Viertel (28%) der Bewohner und Bewohnerinnen eine Hörsehbeeinträchtigung. Menschen, die nur sehbeeinträchtigt sind, können dies gewöhnlich durch das Hörvermögen kompensieren. So ist eine auditive Beschreibung von Bildmaterial, wie einer Fernsehserie, ein gutes Hilfsmittel für sie. Menschen, die eine doppelte Sinnesbeeinträchtigung haben, können jedoch schwierig oder nicht mit einem anderen Sinn kompensieren und müssen lernen, neue Kompetenzen einzusetzen, z.B. das Lormen für die Kommunikation.

Sehverlust hängt mit kognitiven Beeinträchtigungen zusammen
Zudem zeigen die Daten der Pflegeheime, dass ein beachtlicher Teil (27%) der Bewohner und Bewohnerinnen sowohl mindestens leicht sehbeeinträchtigt als auch kognitiv beeinträchtigt ist. Verschiedene internationale Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen Seh- und/oder Hörbeeinträchtigung und kognitiver Beeinträchtigung hin. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass, wenn wenige oder keine visuellen und/oder auditiven Stimuli das Gehirn erreichen, das Gehirn und das Gedächtnis weniger trainiert werden und so die kognitiven Fähigkeiten abnehmen.
Auch hier gilt, dass es für diese Personen schwieriger oder nicht mehr möglich ist, den Verlust des Sehvermögens mit kognitiven Fähigkeiten auszugleichen. So können sie keine Erinnerungen an beispielsweise das Aussehen eines Objekts für fehlende visuelle Informationen einsetzen («Welche Farbe hat der Schlüsselhänger?»). Umgekehrt können keine visuellen Informationen (z.B. Merkzettel) als Unterstützungshilfen verwendet werden, weil sie nicht wahrgenommen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass eine Seh- und/oder Hörbeeinträchtigung mit einer kognitiven Beeinträchtigung verwechselt wird. Die Folgen einer Sinnesbeeinträchtigung können oft mithilfe von Beratung und Hilfsmitteln verbessert werden.

Passende Betreuung und Unterstützung für Pflegeheimbewohner und -Bewohnerinnen
Seh- und Hörverlust und deren Kombination kommen also unter Pflege- und Altersheimbewohnern und -Bewohnerinnen häufig vor, und häufiger als unter Gleichaltrigen in der gesamten Schweizer Bevölkerung (SZBLIND, 2019). Dies überrascht nicht, weil ein grosser Seh- und/oder Hörverlust einer der Gründe für den Einzug in das Pflegeheim gewesen sein kann. Die hohen Prävalenzen deuten klar darauf hin, dass Hör- und/oder Sehverlust in Alters- und Pflegeheimen viel Aufmerksamkeit brauchen. Zu beachten sind folgende Punkte:
Erstens sollten das Seh- und das Hörvermögen der Bewohner und Bewohnerinnen regelmässig kontrolliert werden. Bei einer Verschlechterung können die Betroffenen somit rechtzeitig informiert und unterstützt werden. Angehörige und das Heimpersonal sollten darauf achten, dass sie die Kommunikation auf die Bedürfnisse der betroffenen Personen zuschneiden. Auch sollten sie sicherstellen, dass Hilfsmittel (z.B. ein Hörgerät oder eine Lupenbrille) angeboten und die physische Umgebung (z. B. blendfreie Raumbeleuchtung oder kontrastreiche Alltagsgegenstände) angepasst werden, weil diese nicht nur die Sehoder Hörbedingungen verbessern, sondern auch die kognitiven Funktionen fördern. Auch werden Alltagsaktivitäten aufrechterhalten, soziale Kontakte weiterhin gepflegt und Unfälle vermieden.
Zweitens ist eine interdisziplinäre Betreuung von Bewohnern und Bewohnerinnen mit Sinnesbeeinträchtigung und kognitiver Störung wichtig. Der Augenarzt oder die Optikerin, die HNO-Ärztin, die Memoryklinik, die psychosoziale Beratung, der Heimarzt und das Pflegepersonal sollten den gesamten Gesundheitszustand eines Bewohners oder einer Bewohnerin kennen. Dementsprechend sollten passende Diagnostiktests eingesetzt werden. Eine Person mit Sehbeeinträchtigung kann keine visuellen Aufgaben des Demenztests lösen. Zudem sollten die bestpassende Betreuung und Unterstützung aufgrund des gesamten Gesundheitszustands gewählt werden (z.B. eine kombinierte Hörsehberatung).
Drittens würden viele Sinnesbeeinträchtigte von einem «Brain Training» profitieren. Das Üben von kognitiven Fähigkeiten und Strategien stellt sicher, dass die Sinnesbeeinträchtigung weiterhin kognitiv kompensiert werden kann.
Diese drei Empfehlungen sind im Einklang mit den Leitsätzen, die im Fachheft «Beste Pflege dank audio-visueller Abklärung» für Angehörige, Pflegekräfte und Betreuende im Umgang mit Heimbewohner und -Bewohnerinnen mit Seh-, Hör-, und kognitiven Beeinträchtigungen aufgestellt wurden. Der SZBLIND hat das Fachheft 2016 veröffentlicht. 2023 wurde eine Neuauflage gedruckt. Es zeigt sich also, dass die Leitsätze noch immer sehr aktuell sind und daher von Angehörigen, Pflegeheimpersonal und weiteren Betreuenden gekannt und eingehalten werden sollten.

Weitere Informationen:


Herkunft der Daten
Für diese Studie haben Prof. Dr. Nathalie Giroud (Universität Zürich, Institut für Computerlinguistik) und Dr. Alexander Seifert (Hochschule für Soziale Arbeit FHNW) die sogenannten Schweizer RAI-Daten analysiert. Das Resident Assessment Instrument (RAI) ist eine systematische Gesundheitsund Bedarfsabklärung von Heimbewohnerund Bewohnerinnen und kommt ursprünglich aus den USA. Alle Bewohner und Bewohnerinnen werden mindestens einmal von einer dafür ausgebildeten Pflegefachperson befragt und bewertet. Für diese Studie wurden die 2016 erhobenen Daten ausgewertet: 24‘028 Bewohner und Bewohnerinnen, zwischen 65 und 105 Jahre alt, von 568 Schweizer Alters- und Pflegeheimen aus 16 Kantonen (ohne französischsprachige Kantone).