Musik als sozialer Schlüssel: Erfahrungen

Musik spricht an oder nicht, musikalisch ist man mehr oder weniger, musizieren kann man oder eben auch nicht – aber damit ist dieses Thema noch lange nicht abgehandelt! Als heute blinder Mensch erlebe ich Musik auf passive und aktive Weise. Beides ist mir im Leben unverzichtbar geworden.

Von Gerd Bingemann

Musiker Gerd Bingemann an der Gitarre.

„Als Musiker kann ich anderen Menschen viel zurückgeben“. Bild: zVg

Nach 50 Jahren Musik-Praxis sind mir zwei Aspekte der Musik wichtig geworden, die man differenziert betrachten sollte. Einmal hat Musik eine passive Seite – Musik wird gehört: Ich verwende Musik, um eine Atmosphäre positiv zu gestalten, beispielsweise lege ich beim Essen oder bei Besuchen gezielt Background-Sound auf, als akustisches Pendant zu einer ansprechenden Tischdekoration oder zu Wandbildern. In Restaurants schätze ich ein dezentes Barpiano, da ich einem schönen Interieur kaum etwas abgewinnen kann. Unter Kopfhörern setze ich dagegen fetzige Musik als Antrieb zur sportlichen Betätigung auf dem Crosstrainer im Fitnessstudio ein, wo andere Sportler eine Zeitschrift vor sich haben oder einen Film über den extra montierten Monitor verfolgen. Wenn ich mit sehenden Menschen ausgehe, wähle ich am liebsten einen Anlass mit Live-Musik; dann werden auch Eröffnungen und Ausstellungen mit visuellen Sujets für mich interessant. Konzertbesuche schliesslich als intensivste Zuhör-Form kann ich natürlich am meisten geniessen – ähnlich wie sehende Menschen, die Sightseeing-Touren und Ausflügen mit schöner Aussicht bekanntlich grosse Bedeutung zumessen.

Musizieren als neue „Sprache“

Und dann gibt es natürlich die aktive Seite der Musik: Mein Blockflötenunterricht in der Primarschule glich noch Leselektionen. Als Sekundar- und Kantonsschüler dann durfte ich über Einzelstunden am Klavier quasi eine neue „Sprache“ entdecken. Diese konnte ich durch Auswendigspielen weiterentwickeln. Das Improvisieren, Komponieren und Arrangieren eigener Stücke, ob solo oder zusammen mit anderen, meist normalsehenden Menschen, zeigte wiederum einen besonderen sozialen Integrationseffekt. Dieser liess sich diversifizieren aufgrund meines gesteigerten „Sprachverständnisses“, und auch weil ich autodidaktisch weitere Musikinstrumente wie Gitarre, Bass, Blues Harp und Congas lernte.

Die schulischen Vortragsübungen und Auftritte vor dem Publikum waren es dann auch, die mich meine natürliche Scheu überwinden liessen – ein durchaus gesunder Respekt ist geblieben! – und ich konnte sogar Freude an Konzerten und an spontanen Jamsessions gewinnen. Diese Erfahrungen stärkten mich bis heute ins Berufsleben hinein. Denn auch die Arbeit führt mich immer wieder in unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen und vor beeindruckende Persönlichkeiten.

Musizieren ist für mich aber auch deshalb ein sozialer Schlüssel, weil ich als blinder Mensch nicht nur die Hilfe sehender Personen beanspruch muss, sondern ihnen auch etwas zurückgeben kann. Hier kommen mir viele Anekdoten in den Sinn, wenn ich auf mein Leben zurückblicke:

  • Durch das Musizieren wurde ich in der dritten Klasse der öffentlichen Sekundarschule Zollikofen, die damals ein eingeschweisstes Team bildete, aufgenommen – dies dank meines allerersten Solokonzerts, das ich anstelle der obligatorischen Singstunde gab.
  • Als frischgebackener Hochschulabsolvent durfte ich zwei Wochen nach Arbeitsantritt beim SZBLIND beim Weihnachtsessen überraschend – und somit notgedrungen spontan und selbstverständlich auswendig – eine Eigenkomposition vortragen. Die Folge war ein schneller Zugang zum ganzen Team.
  • Viele Gäste meines seinerzeitigen Stammlokals in Wil haben mich nach spontanen Klaviereinlagen angesprochen. Blickkontakt und Smalltalk erübrigten sich, weil über die Musik automatisch persönliche Gespräche zustande kamen.
  • CDs mit meiner eigenen Musik geben mit eine Möglichkeit, etwas Selbstgemachtes weiterzugeben – werken, basteln, kochen oder backen kann ich nicht.
  • Selbst zu musizieren unterstreicht freudige Situationen, vermittelt aber auch Anteilnahme in schwierigen Momenten, wo jedes Wort zu viel sein kann.
  • Und als religiöser Mensch dient mir Musik auch als Ausdruck meines Gotteslobes, mit Text oder instrumental.

Gerd Bingemann stellt Proben seiner selbst komponierten Musik hier zur Verfügung: https://www.bingemann.ch/gerd/index.php?seite=CDs