Zahlen, Fakten und Diagnose: ein allgemeiner Ein- und Überblick

Sehschädigungen waren früher überwiegend durch eine Schädigung oder Erkrankung des Auges verursacht. Aber seit den späten 1950er Jahren wurden Gehirnschäden als Ursache visueller Beeinträchtigungen häufiger. Die Gründe hierfür liegen in einer verbesserten medizinischen und ophthalmologischen Betreuung, die zu gesteigerten Überlebensraten von Neugeborenen und auch von schwer kranken Kindern führten. Man schätzt, dass heute zerebral bedingte Sehschädigungen (CVI) in den Industrienationen mit über 25 % die Hauptursache für Sehschädigungen im Kindesalter darstellen.

Von Matthias Zeschitz*

Was bedeutet CVI?

Abbildung von Nervenzellen im Gehirn Bild: Sergey Nivens / Shutterstock.com

Abbildung von Nervenzellen im Gehirn
Bild: Sergey Nivens / Shutterstock.com

Im Unterschied zu einer okulären Sehschädigung, bei der eine Schädigung des Auges oder der Sehnerven vorliegt, ist die Ursache einer visuellen Wahrnehmungsstörung bzw. einer zerebralen Sehstörung (Cerebral Visual Impairment – CVI) in postchiasmatischen Veränderungen der Weiterleitungs- und Verarbeitungsprozesse visueller Reize im Gehirn zu suchen.

Zum Teil sind dies zerebrale Strukturschäden, die sich auf einem MRT darstellen lassen, zum Teil sind es Veränderungen in der Kommunikation neuronaler Netzwerke, die mit der Kodierung, Weiterleitung und Vernetzung spezieller Qualitäten des Sehens zu tun haben. Die Schädigungen liegen manchmal nur auf der mikrostrukturellen oder zellulären Ebene und lassen sich deswegen zum Teil nicht organisch festmachen.

Es gibt bislang keine umfassenden epidemiologischen Studien über Ursachen und Auftrittshäufigkeit von CVI. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass keine wissenschaftliche Übereinkunft darüber besteht, was man unter CVI versteht.

Die verbreitetste Ursache von CVI dürfte die periventrikuläre Schädigung der weißen Substanz (PVL) bei frühgeburtlichen Kindern sein: 80 Prozent der Kinder mit PVL zeigen visuelle Wahrnehmungsstörungen (Jacobson et al., 1998). Hier kommt es durch Sauerstoffmangel oder durch Mangeldurchblutung zu einem Absterben von Hirnzellen im dorsalen und lateralen Bereich der Seitenventrikel. Die Defizite der Kinder zeigen sich insbesondere im Bereich der visuellen Aufmerksamkeit und bei räumlich-visuellen Aufgaben.

Andere Ursachen sind angeborene Hirnmissbildungen, perinatale Hirnschäden, Meningitis und Enzephalitis, sowie Schädel-Hirn-Traumen. Die wichtigsten Risikogruppen sind frühgeburtliche Kinder und Kinder mit Zerebralparese, besonders wenn diese Beeinträchtigungen mit intellektuellen Behinderungen und Epilepsie einhergehen.

Neuere Studien (Stiers, Belgien, 2002), haben gezeigt, dass Störungen der Wahrnehmung bei etwa zwei Drittel der 5jährigen Kinder nach perinataler Asphyxie festgestellt werden konnte und bei einem Drittel von Schulkindern mit Zerebralparese. Nur eine Minderheit dieser Kinder hatte Sehschärfen kleiner als 0,3, war also sehbehindert im Sinne des Gesetzes.

Wie zeigt sich CVI?

CVI beschreibt nicht ein konkretes Symptom, sondern – in der Begrifflichkeit des ICF ausgedrückt – die Folgen der Schädigung einer Körperstruktur. Das Spektrum der Schädigungen ist sehr heterogen, es beinhaltet viele verschiedene Ursachen und unterschiedlichste Störungsbilder. CVI kann auch in Kombination mit peripheren okularen Sehschädigungen auftreten. Wesentlich ist aber, dass die Augenschädigung für sich nicht zur Erklärung der Auffälligkeiten des Kindes ausreicht. Die Störungen bei CVI können Auswirkungen auf den Visus, das Gesichtsfeld, das Farb- und Kontrastsehen und die Blickmotorik haben und damit den okulären Schädigungen ähneln.

Die Störungen können sich auf visuell gesteuerte Hand- und Fingerbewegungen beziehen, etwa auf genaues Hantieren, Zeichnen und Schreiben oder auch auf die Steuerung der Fortbewegung und ähneln dann motorischen Defiziten.

Sie können das Such- und Explorationsverhalten, die Form-, Objekt- und Gesichterwahrnehmung sowie die Raumwahrnehmung betreffen, und werden dann leicht mit kognitiven Beeinträchtigungen verwechselt.

Wenn sie die Raumwahrnehmung beeinflussen, können sie ein weites Spektrum von räumlichen Fertigkeiten betreffen: Das Zeichnen, Bauen sowie die Orientierung – das mag vom dicht gedrängten Arbeitsblatt bis zu der überfüllten Turnhalle reichen.

Die besonderen Probleme dieser Kinder wurden lange Zeit relativ wenig beachtet. Wenn etwas auffiel, wurde es zumeist nicht als Problem der visuellen Verarbeitung gesehen sondern eher als Ausdruck einer allgemeinen Lernbehinderung interpretiert.

Ein Kernsymptom bei CVI, und das Kernsymptom aller mehrfachbehinderten Kinder, ist eine reduzierte visuelle Aufmerksamkeit: Wir erwarten eine Verschlechterung und Verlangsamung des kindlichen Such- und Explorationverhaltens, eine zeitliche Begrenztheit der visuellen Aktivität, und schließlich eine Verminderung der Fähigkeit, Unterschiede im Detail wahrzunehmen. Zu den häufigsten Auffälligkeiten bei CVI, besonders bei mehrfachbehinderten Kindern, gehört die Instabilität der Sehleistung. Dies steht offensichtlich im Zusammenhang mit einer instabilen visuellen Aufmerksamkeit. Kinder mit CVI brauchen mehr Zeit, um visuelle Informationen zu verarbeiten und ihre visuelle Ausdauer ist häufig eingeschränkt.

Zu den Auffälligkeiten gehören weiter Probleme des Sehens in „komplexen Umgebungen“: Am Schulhof, im Schwimmbad, im Supermarkt, bei Teamsportarten, also überall dort, wo viel los ist und viele bewegte visuelle Reize gefunden, bewertet und rasch geordnet werden müssen, fühlen sich die Kinder besonders gestresst.

Crowding-Probleme können überall dort entstehen, wo es darum geht, dicht gedrängte visuelle Informationen zu trennen. Die Kinder können ihr Spielzeug in einer gefüllten Spielkiste nur schwer finden, können nur schwer Leute in einer Gruppe erkennen. Sie haben Probleme beim Lesen, wenn Buchstaben oder Worte eng beieinander stehen. Kinder mit Crowding-Problemen fallen nicht selten bereits in der orthoptischen Sehschärfe-Untersuchung durch Trennschwierigkeiten bei dicht gruppierten Sehzeichen auf.

Manche der Kinder haben Schwierigkeiten, visuelle Reize aufzunehmen und gleichzeitig eine motorische Handlung auszuführen. Wir sprechen hier von Problemen der simultanen oder parallelen Informationsverarbeitung.

Diagnostik von CVI

Zihl (2012) betont, dass für eine valide Verwendung der Bezeichnung von CVI als diagnostische Kategorie eine standardisierte Liste von Sehfunktionen erforderlich wäre, die im Einzelfall untersucht werden sollten. Es gibt gegenwärtig jedoch keinen verbindlichen Standard, keinen nationalen oder internationalen Konsens über die Kriterien und Methoden der Abklärung von CVI bei Kindern.
Das Fehlen übergreifender nationaler und internationaler Zusammenarbeit hat unterschiedliche lokale Diagnosen entstehen lassen. Ein Beispiel solcher „regionaler Diagnoseempfehlungen“ sind die Leitlinien der Gesellschaft für Neuropädiatrie und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, aus dem Jahr 2009.

Man schlägt dort vor, dass der Begriff der visuellen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung in Analogie zu der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung betrachtet werden soll. Er soll Störungen der neuronalen Prozesse umfassen, die nach der Sehnervenkreuzung stattfinden. Die Probleme – und das ist das Wesentliche – dürfen nicht durch eine Schädigung des Auges zu erklären sein.

Die Feststellung einer zentral-visuellen Wahrnehmungsstörung (visuelle Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, VVWS) erfolgt mit Hilfe standardisierter Leistungstests (bzw. standardisierter Entwicklungs- und Intelligenztests), um diese nach Art der Störung zu spezifizieren, ihren Schweregrad abzuschätzen und sie von einer allgemeinen Intelligenzminderung abzugrenzen.

Die Diagnose einer zentral-visuellen Wahrnehmungsstörung im Sinne einer umschriebenen Entwicklungsstörung ist dann zu stellen, wenn die visuelle Wahrnehmung deutlich vom allgemeinen Niveau der kognitiven Entwicklung abweicht und eine signifikante kognitive Entwicklungsstörung ausgeschlossen werden kann.

Die Voraussetzungen zur Definitionserfüllung in den Leitlinien waren zunächst also normale Intelligenz und normales Sehvermögen. Aber inzwischen werden visuelle Wahrnehmungsstörungen weiter gefasst, und von der Mehrheit der Fachleute auch als zusätzliche Funktionsstörung bei einem Teil der Population mit globalen Entwicklungsstörungen betrachtet.

Visuelle Wahrnehmungsstörungen finden sich also als umschriebene Entwicklungsstörung, d.h. als Teilleistungsstörung bei normalbegabten Kindern und als Sehfunktionsstörung bei mehrfachbehinderten Kindern. Kinder mit CVI sind also eine klinisch sehr heterogene Gruppe. CVI scheint ein Kontinuum zu sein, das von schwerwiegendem Sehschärfeverlust auf der einen Seite, normalerweise von motorischen und intellektuellen Beeinträchtigungen begleitet, bis hin zu isolierten visuellen Teilleistungsstörungen von sonst gesunden Kindern reicht.

Das Bild zeigt eine verzerrte Brille – statt zwei Gläsern sind drei sichtbar und stellt eine visuelle Wahrnehmungsstörung dar. Bild: Iris Reckert

Visuelle Wahrnehmungsstörung Bild: Iris Reckert

Insgesamt scheint es mir, dass der Begriff der Wahrnehmungsstörung heute zu häufig und zu leichtfertig verwendet wird. Es ist nicht sinnvoll und natürlich auch nicht richtig, jede Form von Entwicklungsstörung mit einer Wahrnehmungsstörung gleichzusetzen. Es ist nicht sinnvoll von Wahrnehmungsstörung zu sprechen, wenn eine – von Sinnesfunktionen unabhängige – allgemeine Beeinträchtigung des abstrakt-logischen Denkens vorliegt.

Es ist sehr wichtig, Beeinträchtigungen der allgemeinen Intelligenzentwicklung von Wahrnehmungsstörungen zu unterscheiden. Kinder mit normaler Begabung können Wahrnehmungsstörungen haben. Und es ist nicht davon auszugehen, dass alle Kinder mit geistiger Behinderung Wahrnehmungsstörungen haben müssen. Was sie allerdings nach Zihl stets haben, ist eine Herabsetzung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit und Leistungsfähigkeit, am deutlichsten bei Aufmerksamkeitsfaktoren wie kognitive Leistungsgeschwindigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Daueraufmerksamkeit, aber auch beim Such- und Explorationsverhalten, sowie der der Fähigkeit, Unterschiede im Detail wahrzunehmen.

*Matthias Zeschitz ist diplomierter Psychologe und arbeitet als Kinder- und Jugendlichentherapeut am Blindeninstitut Würzburg im Bereich der Frühförderung blinder, sehbehinderter und insbesondere mehrfachbehindert-sehgeschädigter Kinder.


Literatur:

  • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (05/2009): Visuelle Wahrnehmungsstörungen
  • Bals I, (2009): Zerebrale Sehstörung: Begleitung von Kindern mit zerebraler Sehstörung in Kindergarten und Schule
  • Jacobson, L, et al (1996): Visual impairment in preterm children with PVL: Dev Med Child Neurol 38: 724 – 735
  • Stiers P, De Cock, P, Vandenbussche E (1998): Impaired visual perceptual performance on an Object Recognition task: Neuropediatrics 29: 80 – 88
  • Stiers P, Vandenbussche E (2004): The dissociation of perception and cognition in children with early brain damage. Brain Dev 26: 81 – 92
  • Zihl J, Dutton G N (2014): Cerebral Visual Impairment in Children
  • Zihl J, Priglinger S (2002): Sehstörungen bei Kindern: Diagnostik und Frühförderung