Assistenz als ethisch begründete Antwort auf die Autonomiefrage behinderter Menschen

 Die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen, verabschiedet im Jahr 2006, fordert einen Paradigmenwechsel: Weg von einer Politik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Leitprinzipien der Konvention sind ein selbstbestimmtes Leben und volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.

von Monika Bobbert

Eine alte Frau sitzt auf dem Sofa: Wer heute noch unabhängig zu handeln vermag, kann schon morgen durch Pflegebedürftigkeit eingeschränkt sein.  Bild: Kay Fochtmann, photocase.com

Eine alte Frau sitzt auf dem Sofa: Wer heute noch unabhängig zu handeln vermag, kann schon morgen durch Pflegebedürftigkeit eingeschränkt sein.
Bild: Kay Fochtmann, photocase.com

Entsprechend dem Freiheitsprinzip der Menschenrechtserklärung von 1948 fordert die Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) in Art. 3a «die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschliesslich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Selbstbestimmung». Hilfspflichten für das Autonomierecht anderer Viele Menschen mit Behinderung sind bei der Realisierung von Autonomie auf tatkräftige Hilfe und auf eine Umgebung angewiesen, die in physischer und sozialer Hinsicht barrierefrei ist. Dies bedeutet, dass das Autonomierecht andere zu Unterstützungsmassnahmen und gegebenenfalls zur Finanzierung einer persönlichen Assistenz verpflichtet. Die Assistenz durch eine Person kann in unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens erforderlich sein, zum Beispiel bei der Kommunikation, der Haushaltsführung, der Mobilität oder Körperpflege, ebenso bei der Berufstätigkeit, der Kindererziehung oder der Freizeitgestaltung. Mit dem ethischen bzw. juridischen Autonomierecht gehen also notwendig individuelle und gesellschaftliche Hilfspflichten einher.
Gute Gründe für ein Recht auf Autonomie sowie ein Recht auf Assistenz lassen sich nicht nur rechtlich, sondern auch aus ethischer Sicht geben – beispielsweise über den Ansatz des amerikanischen Philosophen Alan Gewirth (1978) oder über Immanuel Kant: Beide begründen soziale Rechte als strikt allgemeinverbindliche Solidarpflichten gegenüber behinderten oder benachteiligten Menschen. Nun gilt es, in Konfliktfällen zu klären, wem wie viel Unterstützung und Assistenz zusteht: Dafür bedarf es eines gewissen Richtwerts für grundlegende Bedürfnisse oder Kompetenzen, der für alle Menschen gleichermassen gilt. Ausserdem bedarf es einer kritischen Gesellschaftsanalyse: Was sind physische und soziale Hindernisse? Welche negativen Wertungen und Zwänge gibt es bei uns?

Recht auch auf «unvernünftige» Entscheidungen
Die Achtung der Autonomie eines jeden Menschen ist ein verbindlicher ethischer Anspruch, das heisst, er ist für Menschen guten Willens allgemein zustimmungsfähig. Um unser Autonomierecht zu realisieren, müssen wir Autonomiefähigkeiten haben und Willensurteile bilden. Nur ich selbst kann herausfinden und festlegen, was «das Beste» für mich ist, und worin Selbstverwirklichung und ein gelingendes Leben bestehen. Darin inbegriffen sind auch «unvernünftige» oder «riskante» Entscheidungen oder Handlungen, sofern sie bewusst und freiwillig zustande kommen. Insofern hat jede Form von Vertretung ihre Grenzen. Zugleich führt aber auch eine Überbetonung von Individualität und sich allein genügender Selbstfindung in eine Sackgasse. Denn ein Autonomierecht, das vom Bild eines in sich ruhenden, unabhängigen Individuums ausgeht, verfehlt das Ziel wirklicher Autonomie. Wenn zudem das Autonomierecht nur als Abwehrrecht verstanden wird – in dem Sinn, dass andere uns gewähren lassen und lediglich von Übergriffen absehen müssen –, greift dies zu kurz.

Autonomes Handeln braucht Fähigkeit
Zwar ist in Recht und Ethik die Auffassung verbreitet, dass individuelle Autonomie Freiheit von Einfluss und Zwang durch andere und Freiheit der Wahl bzw. des Entscheidens meint. Dabei wird jedoch oft nur unzureichend berücksichtigt, dass es auch der Fähigkeit zur Autonomie bedarf. Die Autonomiefähigkeit ist immer nur graduell verwirklicht – je nach inneren und äusseren Bedingungen. Sie kann gebildet und unterstützt oder aber geschwächt und korrumpiert werden. So kennen oder verstehen wir vielleicht wichtige Informationen nicht, wir beugen uns dem Erwartungsdruck anderer oder unsere Selbstachtung ist gering. Heute noch unabhängig und kompetent, können wir morgen durch Unfall, Krankheit, gesellschaftliche Ausgrenzung – etwa durch Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit – in unserer Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt sein. Es zeichnet uns Menschen wesentlich aus, dass wir verletzbar, fehleranfällig und endlich sind, und dass wir in Beziehungen leben. In Recht und Ethik kann also die Autonomiefähigkeit nicht einfach vorausgesetzt werden. Vielmehr müssen die Bedingungen realisiert werden, die Autonomie erst ermöglichen. Ein Autonomierecht, das die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln ausser Acht lässt, wird seinem ethischen Gehalt nicht gerecht.

Gesellschaftliche Ordnung, die allen Autonomie ermöglicht
Wenn wir also Hilfspflichten ethisch begründen möchten, um Autonomie zu realisieren, müssen wir uns eingestehen, dass wir alle bedürftig und verletzbar sind, in wechselseitiger Abhängigkeit stehen und auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig sind, die uns fördern oder auch ausgrenzen und unterdrücken können. Diese Einsicht müsste uns vernünftigerweise eine gesellschaftliche Ordnung fordern, die für alle gilt, die uns finanzielle Unterstützung und gegebenenfalls persönliche Assistenz garantiert zukommen lässt. Selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln sowie eine Lebensführung, die den eigenen Vorstellungen entspricht, kann ohne unterstützende und fördernde gesellschaftliche Strukturen nicht gelingen. Dies gilt nicht nur für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle Menschen. Daher stellt die UN-Behindertenrechtskonvention keine Sonderkonvention dar, sondern ist eine vertiefte Auslegung Allgemeiner Menschenrechte.

Monika Bobbert ist Professurvertreterin am Institut für Sozialethik der Universität Luzern

Zum Weiterlesen:
Graumann, Sigrid, Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Utrecht 2009.
Bielefeldt, Heiner, Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention, in: Moser, Vera, Horster, Detlef (Hg.), Ethik der Behindertenpädagogik, Stuttgart, 2012, 149–166.