Wie es um den barrierefreien Tourismus in der Schweiz steht

Möglichst frei, unbeschwert und ohne Hindernisse – so wünschen auch blinde und sehbehinderte Menschen, auf Reisen unterwegs zu sein oder ihren Urlaub zu verbringen. Um dies zu erreichen, muss die Infrastruktur stimmen, und Restaurants wie Hotels müssen für die Bedürfnisse sehbehinderter Menschen sensibilisiert sein.

Von Barbara Altherr Bärlocher

Barrierefrei die Stadt erkunden – taktiler Altstadtplan von Bern Bild: Blindenschule Zollikofen

Bild: Blindenschule Zollikofen

Rechtzeitig zum Sommerauftakt hat Mobility International Schweiz (MIS) einen neuen hindernisfreien Wanderweg der Öffentlichkeit übergeben. Dieser führt von Montreux nach Villeneuve. Insgesamt gibt es nun 67 hindernisfreie Wanderwege schweizweit, die von Wanderern im Rollstuhl befahren werden können. Körperbehinderte Menschen können Informationen rund um dieses Freizeitangebot auf der Website von MIS und in der Datenbank von SchweizMobil abholen: Kartenausschnitte, Angaben zur Wegbeschaffenheit, Gefälle und Steigungen, Wegbreite, aber auch Informationen zur Anreise mit dem öffentlichen Verkehr, zu Standorten und Details wie rollstuhlgerechte WCs, Einkehrmöglichkeiten und Grillstrecken.

MIS ist die offizielle Fachstelle für barrierefreies Reisen in der Schweiz. Der Verein versteht seine Aufgabe vordringlich darin, weltweit Informationen zum Reisen ohne Barrieren zu sammeln und diese weiterzugeben. Die Fachstelle stellt Informationen zu Hotels, Transportmöglichkeiten, Museen und Freizeitmöglichkeiten zur Verfügung. Allerdings vor allem für körperbehinderte Menschen. In jüngerer Zeit werden verstärkt Forderungen laut, dass MIS auch für die Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Menschen eintritt – völlig „zu recht“, wie MIS-Geschäftsführer Marcus Rocca findet.

Nun stellt sich die Situation für blinde und sehbehinderte Reisende und Touristen etwas anders dar. Das zeigt gerade das Beispiel der Wanderwege. Verena Kuonen, Vizepräsidentin im Vorstand von MIS, Vertreterin des SZBLIND und selbst blind, arbeitet in einer Begleitgruppe mit, welche die Wege auch für Blinde zugänglich machen will: „Wenn Blinde mit dem öffentlichen Verkehr ankommen, finden sie oft den Einstieg zum Wanderweg nicht, vor allem an den Bahnhöfen“, berichtet Kuonen. Die Signalisation wird übersehen. Also muss man früher ansetzen: „Als Lösung haben wir nun die Technologie gewählt: etwas in Richtung GPS, das auf dem Smartphone abrufbar sein wird“. Generell findet Kuonen, dass Blinden das Reiseleben durchaus erleichtert werden kann, „aber die vollständige Autonomie wird es wohl niemals geben.“

Betroffene sensibilisieren am besten

MIS ist nicht die einzige Institution, die sich für hindernisfreien Tourismus einsetzt. Die meisten notwendigen Anpassungen müssen von Tourismusbetrieben selbst realisiert werden. „Viele, die sich dem Thema Barrierefreiheit verschrieben haben, machen dies aus einer persönlichen Betroffenheit heraus“, weiss Rocca. An manchen Orten sind auch Betroffene selbst aktiv und setzen sich für barrierefreies Reisen ein: „Wir haben im Toggenburg das Projekt ‚Ferien für alle‘. Die Idee kam von einem blinden Mann und einer Frau, die aufgrund von MS im Rollstuhl sitzt.“

Die Verantwortung für die barrierefreie Umgestaltung des touristischen Raums darf natürlich nicht nur auf Einzelpersonen abgewälzt werden. Sensibilisierung der Betriebe bleibt eine Aufgabe für alle. So setzt MIS auch dort an: Regelmässig besucht sie Tourismusfachschulen und treibt dort die Sensibilisierung für das Thema Barrierefreiheit voran. MIS-Chef Rocca sieht zudem grosse Vorteile, wenn „gerade im Tourismusbereich auch Menschen mit einer Behinderung angestellt werden. Denn so funktioniert die Sensibilisierung am besten – von innen nach aussen.“

Barrierefreiheit in der Schweiz und anderswo

Die Schweiz ist in Sachen Barrierefreiheit im Tourismus relativ gut unterwegs: „Im Bereich des öffentlichen Verkehrs sind unsere Vorschriften gerade auch für Menschen mit Sehbehinderung im weltweiten und im europäischen Vergleich gut“, meint die Juristin und Leiterin Gleichstellung bei Integration Handicap, Caroline Hess-Klein. Problematisch wird es, wenn das Reisen die engen Grenzen des öV überschreitet und in den Dienstleistungsbereich von Privaten wie Migros, Coop, Kinos, Restaurants, Hotels oder Ferienwohnungen wechselt. „Hier steht die Schweiz schlecht da.“ (vgl. Info-Kästchen)

In anderen Ländern gibt es auch bei den Transportmöglichkeiten Hürden: „Man könnte in der Regel sagen: Je südlicher, desto weniger zugänglich“, berichtet Marcus Rocca. Es gibt allerdings Ausnahmen, wie z.B. in Spanien: „Hier setzt sich die Blindenorganisation ONCE, mit ihrer bekannten Lotterie, sehr für blinde und sehbehinderte Menschen ein.“ Körperbehinderte Menschen hingegen können afrikanische oder asiatische Staaten wegen der fehlenden Infrastruktur schwerer bereisen. Ein Vorbild in jeder Hinsicht ist Skandinavien: „Dort ist die soziale Einstellung der Menschen anders, und die Infrastruktur ist einen Tick besser als bei uns“, berichtet Rocca. Kuonen lobt auch die USA als Vorzeigeland: „Hier haben Menschen mit Behinderung einen ganz anderen Stellenwert. Die Aufzüge sind barrierefrei, Busse kündigen sich mit der entsprechenden Nummer an und Blindenführhunde sind überall erlaubt.“

Für die Zukunft hat Marcus Rocca einen klaren Wunsch: „Alle sollen die Autonomie erlangen, die sie sich wünschen. Menschen mit Behinderung sollen nicht mehr stundenlang alles abklären müssen, sondern auch spontan Sachen unternehmen können.“ Das geht allerdings erst, wenn Barrierefreiheit zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

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Was das BehiG zum hindernisfreien Reisen sagt

Für ein hindernisfreies Reisen gibt es keine eigenen gesetzlichen Vorschriften oder Regelungen in der Schweiz. Allerdings haben die allgemeinen Bestimmungen für den hindernisfreien öffentlichen Verkehr im Behinderten Gleichstellungsgesetz (BehiG) und seinen Verordnungen „sehr wohl grosse Auswirkungen auf das Reisen“, so Caroline Hess-Klein. Einschränkungen auf Reisen, beispielsweise beim Essen im Restaurant oder bei einem Ausstellungsbesuch, darf es nach dem BehiG nicht geben. Obgleich das Gesetz auch Vorschriften zu Bauten und Dienstleistungen beinhaltet, ist in den letzten zehn Jahren am meisten im öffentlichen Verkehr passiert. Hess-Klein: „Der Gesetzgeber hat eine Frist festgelegt: Zehn Jahre für die Anpassung der Kommunikationssysteme, der Informationssysteme und des Billetbezugs, 20 Jahre für Fahrzeuge und Infrastruktur.“ Obwohl die Fristen grosszügig bemessen sind, werden nicht alle Unternehmen sie einhalten können. „Man muss also eine gemischte Bilanz ziehen: Man ist zwar weit – aber noch nicht so weit, wie vom Gesetzgeber vorgegeben.“

Für private Dienstleister sieht das Gesetz keine Anpassungspflicht vor, sondern nur ein Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Doch seit der Ratifizierung gilt auch für die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention, die das Recht auf Zugang, persönliche Mobilität, Teilhabe am öffentlichen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport beinhaltet. Hess-Klein betont: „Die Anforderungen, welche die UNO-Behindertenrechtskonvention an den Schweizer Staat stellt, sind viel grösser; der „kleine“ Schutz gegen Diskriminierung reicht nicht aus, wenn die Schweiz die Behindertenrechtskonvention ernst nehmen will.“

Website von Mobility International Schweiz MIS: www.mis-ch.ch

Schweizer Netzwerk für Langsamverkehr: www.schweizmobil.ch